Der Bluthund: Ein Jack-Reacher-Roman
von Lee Child
Jack Reacher stößt auf die Spur verdienter US-Veteranen, die, vom Staat alleingelassen, die Folgen ihres Kampfeinsatzes ganz allein zu tragen haben.
Billige Ehrung
Amerikanische Soldaten, die im Krieg verwundet oder getötet wurden, erhalten eine Auszeichnung namens Purple Heart. Eingeführt wurde das Abzeichen schon 1782 durch George Washington, so dass das »Violette Herz« (trotz einiger Jahrzehnte der Vergessenheit) heute der älteste noch vergebene Militärorden der Welt ist. Fast zwei Millionen Männer und Frauen wurden bisher damit geehrt, und ihnen hat Lee Child seinen 22. Jack-Reacher-Roman gewidmet.
Sein rastloser Protagonist war selbst Soldat, Absolvent der Elite-Akademie West Point und im letzten Dienstgrad Major. Obwohl inzwischen in die Jahre gekommen, liegt Jack Reacher nichts ferner, als es sich in einem gutbürgerlichen Leben mit Haus und Familie bequem zu machen. Wohin es ihn auch verschlägt, er hält es nur wenige Tage an einem Ort aus. Die Liebe kann ihn schon mal kurzzeitig ausbremsen, aber dann packt er wieder seine Zahnbürste, geht zum nächsten Busbahnhof und steigt in den ersten abfahrbereiten Bus, wo immer der ihn hinbringen mag. »Sein ganzes Leben war ein Besuch.«
So entwickelt sich die Handlung erst einmal als gemächliches road movie mit Beschreibungen von Landschaften und Menschen, die ihrer Wege ziehen. Bei der Pause in einer Kleinstadt greift der Zufall ein. Im Schaufenster eines Leihhauses mustert Jack Reacher verstaubte Objekte, die traurige Geschichten von unerfüllten Träumen erzählen könnten: Gitarren, Tinnef, Schmuckstücke … Ein kleiner Frauenring mit der Gravur »West Point« fasziniert den Betrachter, der Bluthund hat eine Witterung aufgenommen, und sein Bus fährt ohne ihn weiter.
West Point ist Amerikas härteste Ausbildungsstätte. Nur körperlich, geistig und charakterlich makellose Bewerber werden aufgenommen, und Jack Reacher weiß aus eigener Erfahrung, welche Torturen einem Kadetten abverlangt werden, ehe er schließlich graduiert wird. Was muss geschehen, dass ein West-Point-Absolvent den bedeutungsschweren kleinen Ring, der seinen Triumph symbolisiert, weggibt? Sollte der Besitzer verstorben sein, würden trauernde Angehörige ihn nicht unter allen Umständen als ewiges Andenken bewahren wollen? Und wieviel ist so ein Objekt einem Käufer wert?
Für schlappe vierzig Dollar verkauft der Leihhausbesitzer den Ring mit der Innengravur »S.R.S.2005« an Jack Reacher. Über seine Vorgeschichte weiß er so gut wie nichts. Er hat ihn gegen Spendenquittung von einem Typen, »der bei einem Wohltätigkeitsverband aushilft«. Es bedarf vieler weiterer Unterredungen, bis Jack in West Point die Identität der früheren Kadettin herausbekommt: Serena Rose Sanderson, zuletzt Majorin, war klein »wie ein Spatz«, kehrte nach fünf Kampfeinsätzen schwer verwundet zurück in die Heimat und verschwand vor sieben Jahren vom Radar. Wollte sie nicht mehr gefunden werden? Mit solch vagen Vermutungen gibt sich ein Bluthund nicht zufrieden. Er wird »S.R.S.2005« aufspüren, tot oder lebendig.
Lee Child, einer der weltweit erfolgreichsten Thrillerautoren und natürlich ein versierter Schriftsteller, erzählt den Handlungsfortgang flüssig, geradlinig, spannend, unterhaltsam und komfortabel. Immer wieder fassen kleine Passagen den jeweiligen Stand der Recherchen zusammen, was bei der Vielzahl der Namen über fast 450 Seiten hilfreich ist. Viele flotte Dialoge reichern die Story an, aber es dauert doch ein Weilchen, bis der Leser über all die häppchenweise verabreichten Informationen zum bedrückenden Kern geführt ist.
Denn Serena Rose Sanderson ist ein Opfer der Opioidkrise, eines bis heute nicht bewältigten amerikanischen Skandals. Nach massivem Druck der Pharmaindustrie wurden ab 1996 legale Opioide, bis dahin nur Schwerstkranken verabreicht, auch bei alltäglichen Schmerzen verschrieben. In der Folge wurden viele Patienten durch die Einnahme des ärztlich verordneten Medikaments drogenabhängig und mussten einen langen Leidensprozess durchleben. Wegen der zwischen 1999 und 2017 auf das Fünffache gestiegenen Zahl der Opioid-Todesopfer sank sogar die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA erstmals seit 1918. Angehörige des US-Militärs, die mit Verwundungen von Kampfeinsätzen heimkehrten, waren doppelt betroffen. Das Mittel machte sie drogenabhängig, und der Staat ließ sie mit den Folgen allein.
Eine Romanfigur legt ihrem aufmerksamen Zuhörer Jack Reacher und uns (amerikanische Leser dürften Bescheid wissen) die Hintergründe dieses schändlichen Kapitels jüngster US-Politik offen. Ein Special Agent der Anti-Drogen-Behörde (Drug Enforcement Administration) verfolgt eine Spur, die nach Wisconsin führt. Was der Beamte über die Geschichte des Heroins, seinen ersten Einsatz im Ersten Weltkrieg, die Rolle der Pharmaindustrie, die Machenschaften korrupter Ärzte und Kartelle, die das synthetisch hergestellte Pulver über den Schwarzmarkt vertreiben, zu berichten weiß, interessiert auch einen Privatdetektiv. Die Zwillingsschwester von Serena Rose Sanderson hat den Ex-FBI-Mann beauftragt, die Verschollene zu suchen.
Jack Reacher, ehemals Militärpolizist, ist noch immer ein tougher Held. Locker nimmt er es mit sieben Bikern auf einen Streich auf, alle so bullig wie ihre Harley-Davidson-Maschinen. Lee Child hat ihn als »Bluthund« auf eine melancholische, sensible Odyssee geschickt, damit er die »invalide Veteranin« mit allen Mitteln vor den Unbilden des Lebens schützt, insbesondere bevor der Staat in Gestalt der Drogenermittler auf der Bildfläche erscheint.
Lee Childs Jack-Reacher-Reihe umfasst mittlerweile 25 Bände. Den neuesten, »The Sentinel« , hat Child mit seinem jüngeren Bruder Andrew verfasst. Er wird voraussichtlich am 25. Oktober 2020 in englischer Sprache veröffentlicht. »Der Bluthund« ist Band 22 und erschien im Original (»The Midnight Line« ) im Jahr 2017. Wulf Bergner hat ihn übersetzt.
Übrigens erschien im März 2020 schon ein weiterer Roman, der sich mit der Opioidkrise befasst: Liz Moores »Long Bright River« [› Rezension].