Rezension zu »Der Bluthund: Ein Jack-Reacher-Roman« von Lee Child

Der Bluthund: Ein Jack-Reacher-Roman

von


Jack Reacher stößt auf die Spur verdienter US-Veteranen, die, vom Staat alleingelassen, die Folgen ihres Kampfeinsatzes ganz allein zu tragen haben.
Kriminalroman · Blanvalet · · 448 S. · ISBN 9783764507220
Sprache: de · Herkunft: us

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Rezension vom 14.09.2020 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Amerikanische Soldaten, die im Krieg verwundet oder getötet wurden, erhalten eine Auszeich­nung namens Purple Heart. Einge­führt wurde das Abzeichen schon 1782 durch George Washing­ton, so dass das »Violette Herz« (trotz einiger Jahr­zehnte der Verges­senheit) heute der älteste noch vergebene Militär­orden der Welt ist. Fast zwei Millionen Männer und Frauen wurden bisher damit geehrt, und ihnen hat Lee Child seinen 22. Jack-Reacher-Roman gewidmet.

Sein rastloser Protagonist war selbst Soldat, Absolvent der Elite-Akademie West Point und im letzten Dienst­grad Major. Obwohl inzwi­schen in die Jahre gekommen, liegt Jack Reacher nichts ferner, als es sich in einem gut­bürger­lichen Leben mit Haus und Familie bequem zu machen. Wohin es ihn auch ver­schlägt, er hält es nur wenige Tage an einem Ort aus. Die Liebe kann ihn schon mal kurz­zeitig aus­bremsen, aber dann packt er wieder seine Zahn­bürste, geht zum nächsten Bus­bahn­hof und steigt in den ersten abfahr­bereiten Bus, wo immer der ihn hin­bringen mag. »Sein ganzes Leben war ein Besuch.«

So entwickelt sich die Handlung erst einmal als gemächliches road movie mit Beschrei­bungen von Land­schaften und Menschen, die ihrer Wege ziehen. Bei der Pause in einer Klein­stadt greift der Zufall ein. Im Schau­fenster eines Leih­hauses mustert Jack Reacher ver­staubte Objekte, die traurige Geschich­ten von uner­füllten Träumen erzählen könnten: Gitarren, Tinnef, Schmuck­stücke … Ein kleiner Frauen­ring mit der Gravur »West Point« faszi­niert den Betrach­ter, der Bluthund hat eine Witterung aufge­nommen, und sein Bus fährt ohne ihn weiter.

West Point ist Amerikas härteste Ausbildungs­stätte. Nur körper­lich, geistig und charak­terlich makel­lose Bewerber werden aufge­nommen, und Jack Reacher weiß aus eigener Erfahrung, welche Torturen einem Kadetten abver­langt werden, ehe er schließ­lich graduiert wird. Was muss geschehen, dass ein West-Point-Absolvent den bedeutungs­schweren kleinen Ring, der seinen Triumph symbo­lisiert, weggibt? Sollte der Besitzer verstor­ben sein, würden trauernde Ange­hörige ihn nicht unter allen Um­ständen als ewiges Andenken bewahren wollen? Und wieviel ist so ein Objekt einem Käufer wert?

Für schlappe vierzig Dollar verkauft der Leihhaus­besitzer den Ring mit der Innen­gravur »S.R.S.2005« an Jack Reacher. Über seine Vorge­schichte weiß er so gut wie nichts. Er hat ihn gegen Spenden­quittung von einem Typen, »der bei einem Wohltätig­keitsver­band aushilft«. Es bedarf vieler weiterer Unter­redun­gen, bis Jack in West Point die Identität der früheren Kadettin heraus­bekommt: Serena Rose Sanderson, zuletzt Majorin, war klein »wie ein Spatz«, kehrte nach fünf Kampf­einsätzen schwer verwundet zurück in die Heimat und ver­schwand vor sieben Jahren vom Radar. Wollte sie nicht mehr gefunden werden? Mit solch vagen Vermu­tungen gibt sich ein Bluthund nicht zufrieden. Er wird »S.R.S.2005« aufspüren, tot oder lebendig.

Lee Child, einer der weltweit erfolg­reichsten Thriller­autoren und natürlich ein ver­sierter Schrift­steller, erzählt den Handlungs­fortgang flüssig, gerad­linig, spannend, unter­haltsam und komfor­tabel. Immer wieder fassen kleine Passagen den jewei­ligen Stand der Recher­chen zusammen, was bei der Vielzahl der Namen über fast 450 Seiten hilfreich ist. Viele flotte Dialoge reichern die Story an, aber es dauert doch ein Weilchen, bis der Leser über all die häppchen­weise verab­reichten Informa­tionen zum bedrü­ckenden Kern geführt ist.

Denn Serena Rose Sanderson ist ein Opfer der Opioid­krise, eines bis heute nicht bewäl­tigten amerika­nischen Skandals. Nach massivem Druck der Pharma­industrie wurden ab 1996 legale Opioide, bis dahin nur Schwerst­kranken verab­reicht, auch bei alltäg­lichen Schmerzen verschrie­ben. In der Folge wurden viele Patienten durch die Einnahme des ärztlich verord­neten Medika­ments drogen­abhängig und mussten einen langen Leidens­prozess durch­leben. Wegen der zwischen 1999 und 2017 auf das Fünffache gestie­genen Zahl der Opioid-Todes­opfer sank sogar die durch­schnitt­liche Lebens­erwar­tung in den USA erstmals seit 1918. Ange­hörige des US-Militärs, die mit Verwun­dungen von Kampf­einsätzen heim­kehrten, waren doppelt betroffen. Das Mittel machte sie drogen­abhängig, und der Staat ließ sie mit den Folgen allein.

Eine Romanfigur legt ihrem aufmerk­samen Zuhörer Jack Reacher und uns (amerika­nische Leser dürften Bescheid wissen) die Hinter­gründe dieses schänd­lichen Kapitels jüngster US-Politik offen. Ein Special Agent der Anti-Drogen-Behörde (Drug Enforc­ement Adminis­tration) verfolgt eine Spur, die nach Wisconsin führt. Was der Beamte über die Geschichte des Heroins, seinen ersten Einsatz im Ersten Weltkrieg, die Rolle der Pharma­industrie, die Machen­schaften korrupter Ärzte und Kartelle, die das synthe­tisch herge­stellte Pulver über den Schwarz­markt vertrei­ben, zu berichten weiß, interes­siert auch einen Privat­detektiv. Die Zwillings­schwester von Serena Rose Sanderson hat den Ex-FBI-Mann beauf­tragt, die Verschol­lene zu suchen.

Jack Reacher, ehemals Militär­polizist, ist noch immer ein tougher Held. Locker nimmt er es mit sieben Bikern auf einen Streich auf, alle so bullig wie ihre Harley-Davidson-Maschinen. Lee Child hat ihn als »Bluthund« auf eine melancho­lische, sensible Odyssee geschickt, damit er die »invalide Veteranin« mit allen Mitteln vor den Unbilden des Lebens schützt, insbe­sondere bevor der Staat in Gestalt der Drogen­ermittler auf der Bild­fläche erscheint.

Lee Childs Jack-Reacher-Reihe umfasst mittler­weile 25 Bände. Den neuesten, »The Sentinel« Lee Child: »The Sentinel« bei Amazon , hat Child mit seinem jüngeren Bruder Andrew verfasst. Er wird voraus­sichtlich am 25. Oktober 2020 in engli­scher Sprache veröf­fentlicht. »Der Bluthund« ist Band 22 und erschien im Original (»The Midnight Line« Lee Child: »The Midnight Line« bei Amazon ) im Jahr 2017. Wulf Bergner hat ihn übersetzt.

Übrigens erschien im März 2020 schon ein weiterer Roman, der sich mit der Opioid­krise befasst: Liz Moores »Long Bright River« [› Rezension].


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