Das wahre Glück der Mrs. Naomi Shapiro: Selbstlose Freunde
Am frühen Morgen streiten sich Georgie Sinclair und ihr Ehemann Rip um die Montage eines Zahnbürstenhalters. Doch Rip verändert die Welt mit wichtigeren Dingen. So ein popliger Job gehört nicht in sein Arbeitsfeld. Er verlässt endgültig die Familie. Nun ist Georgie mit ihrem pubertierenden Ben allein. Als Georgie nach heftigen Heulattacken die Trennung überstanden hat, bestellt sie einen Container. Nichts soll sie mehr an Rip erinnern.
Abends vernimmt sie Geräusche: Poltern, Klirren von Glas. Da holt doch jemand Sachen aus dem Müllcontainer! Es ist eine alte, dürre Frau mit einer Strass besetzten Mütze. "Hier müssen Barbaren wohnen," brummelt sie, umhüllt von einem intensiven, strengen Duft. Welch ein Glück bereiten ihr die alten Schallplatten mit Werken von Tschaikowsky, Schostakowitsch und Prokofjew! Georgie stellt sich vor, und Mrs. Naomi Shapiro zieht mitsamt ihrem voll beladenen alten Kinderwagen von dannen.
Zufällig treffen sich die Beiden im Supermarkt wieder. In einer Ecke werden abgelaufene Lebensmittel umetikettiert. An vorderster Front kämpft Mrs. Shapiro und zankt um die Schnäppchen. Sie lädt ihre neue Freundin in ihr Canaan House zu einem Abendmenü ein.
Mit ungutem Gefühl nähert sich Georgie der hinter Ligusterhecken versteckten, heruntergekommenen alten Villa: streunende Katzen, Modergeruch; nur ein kleiner Sonnenstrahl gibt Wärme und dem Haus etwas Verwunschenes. Auch im Haus stinkt es nach Katzenpisse und anderen Ekel erregenden Dingen. Allgegenwärtiges Gerümpel spricht von den vielfältigen Eigenschaften und Interessen der exzentrischen Bewohnerin. Dank heroischer Selbstüberwindung verspeist Georgie tapfer die zum großen Teil ungenießbare Mahlzeit; mancher Brocken fällt versehentlich zu Boden – wo sich umgehend die Katzen um die willkommene Delikatesse kümmern.
Ein paar Tage später erhält Georgie einen Anruf: "Darlink, ich liege im Krankenhaus, kannst du dich um Haus und Katzen kümmern?" Nun nimmt Georgies Alltag einen rasanten neuen Verlauf, denn sie sieht sich plötzlich in Kämpfe an mehreren Fronten verwickelt, um Mrs. Shapiro die Rückkehr in ihre "Villa" zu ermöglichen. Wie ein Pflaumenkuchen die Wespen, so zieht das Haus Makler und selbst eine Mitarbeiterin des Sozialamts an, denn offenbar handelt es sich um eine Superimmobilie ...
Marina Lewycka hat ihren Roman einfühlsam, mit Liebe und Hingabe geschrieben. Besonders gut gelingt ihr die detaillierte Darstellung der Villa. Der Leser hat jedes Zimmer und seine interessante Einrichtung – hier gibt es noch eine alte Zinkwanne auf Löwenfüßen – bildlich vor Augen.
Die selbstbewusste Mrs. Shapiro setzt überall ihren Willen durch. Das faltige Gesicht großzügig mit Rouge und auffälligem Lippenstift gestaltet, auf Stöckelschuhen mit Riemchen und gewandet in ihr bestes Stück – einen Persianermantel, der nach Mottenkugeln, Schweiß und Luxusparfüm riecht – tritt sie selbstbewusst im Krankenhaus auf. Sie geht in kein Heim!
Ganz und gar nicht passt in dieses Handlungsgefüge, dass Georgie ein Miniverhältnis zu einem Makler entwickelt. Es bleibt oberflächlich und kitschig ("Ich hätte in seine Arme sinken können."). Ebenso wenig stimmig finde ich, wie die Autorin Georgies Sohn Ben angelegt hat: Natürlich darf er ein modernes Cyber-Kid sein, aber als Internet-Startseite hat er sich "Antichrist" ausgewählt: Satan, der große Verführer, wandelt bereits auf Erden ... Muss der Junge denn so abgedreht sein?
Eines der Themen, die in diesem Roman anklingen, ist die Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Juden bzw. der Palästina-Konflikt. So rankt sich um Mrs. Shapiro eine geheimnisvolle Geschichte, die sie Georgie nach und nach enthüllt. Aber war sie wirklich mit dem jüdischen Geiger Artem verheiratet? Ein in einer Sesselritze gefundenes Foto zeigt neben Artem eine andere Frau ... Und in einem Baumarkt lernt Georgie den Palästinenser Mustafa Ali kennen (der später Reparaturarbeiten am Canaan House durchführen wird). Er erzählt ihr vom Leid seiner Familie, die 1948 von den Juden mit Waffengewalt aus ihrer Stadt Lydda vertrieben wurde. Die historisch-politische Thematik bleibt aber eher am Rande; Marina Lewycka hatte nicht die Absicht, den Konflikt zwischen Palästinensern und Juden aufzuarbeiten.
Das Buch hat den Titel "Das Leben kleben". Georgie arbeitet für eine chemische Firma, die verschiedenste Klebstoffe herstellt. Für die Autorin symbolisieren sie die geheimnisvolle Kraft, die alles zusammenhalten kann – im übertragenen Sinne vielleicht auch Juden und Palästinenser.
Ein sehr unterhaltsames, lesenswertes Buch!