Grenzgänger
von Mechtild Borrmann
Ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen scheitert im Nachkriegsdeutschland an der Aufgabe, seine jüngeren Geschwister zu versorgen. Sie werden in die Obhut der Kirche übergeben und durchleiden dort Unfassbares.
Bessere und schlechtere Menschen
Henriette Bernhard, geb. Schöning, genannt Henni, wollte immer das Richtige tun. Das wurde ihr zum Verhängnis. Im Herbst 1970 stand sie in Aachen vor Gericht, des Mordes und der Brandstiftung angeklagt. Noch vor dem Richterspruch hatten die Tageszeitungen sie bereits verurteilt.
Hennis Geschichte trägt sich in Velda, einem Eifeldorf an der deutsch-belgischen Grenze, zu und hat ihren Mittelpunkt in den schweren Zeiten gleich nach dem Krieg. Das Mädchen kommt aus schwierigen Verhältnissen. Ihr Vater Herbert trägt schwer an seinen Kriegstraumata, die ihm alle Lebenstüchtigkeit geraubt haben. Er kann weder seine frühere Arbeit aufnehmen noch für seine Frau Maria und die vier Kinder sorgen. Trost und Rückhalt findet er in der Kirche, der Pfarrer ist seine Leitfigur.
Henni, seine vernünftige, tatkräftige, übermütige Älteste, soll, so empfehlen ihre Lehrer, zur Höheren Schule wechseln, arbeitet aber mit ihrer Mutter in einer Gaststätte, um die Familie über Wasser zu halten. Als Maria im April 1947 stirbt, sind Herbert und der Pfarrer der Ansicht, die Kinder seien in kirchlicher Obhut am besten aufgehoben. Doch Henni kämpft für deren Verbleib zu Hause, setzt sich durch und übernimmt die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister und den Haushalt.
Obwohl das Geld knapp ist, arbeitet der Vater, dem Gott näher steht als seine Tochter, unentgeltlich für die Kirche – für Henni ein Unding. Sie beschwert sich beim Bistum in Aachen, woraufhin er zwar ein kleines Küster-Salär erhält, das Mädchen aber sowohl ihn als auch den verärgerten Pfarrer zum Feind hat. Vater ohrfeigt das Mädchen und beschimpft sie als »unverschämte und gottlose Göre«.
Dann entdeckt Henni eine lukrative Einnahmequelle. Sie schließt sich einer Gruppe »Grenzgänger« an, die für den Schwarzmarkt Kaffee aus Belgien herüberschmuggeln. Ab Herbst 1950 nimmt sie sogar ihre Geschwister mit auf die riskanten nächtlichen Moorwanderungen durch das Hohe Venn. Eines Nachts ertappt sie ein Trupp von Grenzern, und einer von ihnen, ebenfalls aus Velda, erschießt Hennis kleine Schwester Johanna. Ewig werden Reue und Schuldgefühle Henni quälen, dass sie das Kind in diese Gefahr gebracht hat.
Der schreckliche Zwischenfall beendet das von Armut, Solidarität und Abenteuer geprägte Dasein der Kinder. Der Vater rührt keinen Finger, als Henni, inzwischen siebzehn, 1951 wegen »sittlicher Verwahrlosung« in eine Aachener »Besserungsanstalt für Mädchen« und ihre Brüder Matthias und Fried in ein Heim Trierer Ordensschwestern verfrachtet werden.
Was die Jungen dort durchmachen, kann man nur als Hölle auf Erden bezeichnen. Blinde Akzeptanz der Autoritäten und bedingungslose Unterordnung sind oberste Ziele der Erziehung, Angst, Schmerz und Schuldgefühle sollen den Weg dahin bahnen. Jegliche Infragestellung wird im Keim erstickt, wobei selbst Bettnässen schon als eine Form der Verweigerung bestraft wird. Was sich die Schwestern, die doch als fromm gelten, an Maßnahmen einfallen lassen, um die Kinder, die doch ihre Schützlinge sein sollten, zu besseren Menschen zu machen, wird heutzutage als Misshandlung, wenn nicht Folter bewertet. Die Tragik liegt darin, dass die Opfer keinerlei Ausweg aus ihrem Leid erkennen konnten. Jeder, an den sie sich verzweifelt wenden mochten – Verwandte, Geistliche, Lehrer, Arzt –, war selber autoritätsgläubig oder abhängig. Das Böse, von dem ein unreifes Kind berichtete, traute niemand einer Person zu, die ihr Leben Gott geweiht hat; es musste folglich in dem Kind selbst verwurzelt sein – und ausgetrieben werden.
Von den äußeren Umständen her nimmt Hennis Leben nach ihrer Entlassung aus dem Heim einen positiven Verlauf. Sie findet eine Arbeitsstelle, bewährt sich durch Fleiß und Pflichtbewusstsein, heiratet, bekommt zwei Kinder. Die Suche nach den Brüdern, über deren Verbleib sie nichts weiß, gibt sie nie auf. Doch all ihre menschlichen Qualitäten und Verdienste zählen nichts, als sie sich 1970 vor Gericht verantworten muss.
Damit ist der zentrale Handlungsstrang mit seinen Hauptpersonen umrissen. In einem zweiten steht Hennis Jugendfreundin Elsa im Mittelpunkt, die eine Außensicht gewährt. Sie erzählt von den Ereignissen in Velda während des Krieges und danach sowie vom Aachener Prozess. Insbesondere erlaubt sie Einblicke in die schlichte Mentalität und Boshaftigkeit der Dorfbewohner (»Anfällig für Dummheiten war die ja immer schon als Kind, und dann als junges Mädchen … Na ja, man weiß ja, wo sie anschließend war.« – Dass Henni vor Gericht schweigt, macht es den Leuten leicht, ein Urteil zu fällen: »Wenn sie unschuldig wäre, dann würde sie sich ja wohl verteidigen«.). »Verlogenes Pack alle miteinander«, kommentiert Elsa.
Auch das Vorgehen der Presse weiß Elsa zu nehmen: »So einfach machen die sich das. Legen sich die Dinge zurecht. Hier ein bisschen was verschweigen, da ein bisschen was dazutun und fertig ist die neue Wahrheit.« Was aber ist die Wahrheit? Elsa kann nicht glauben, was man Henni vorwirft, und wohnt den Verhandlungen regelmäßig bei. Dabei lernt sie einen interessierten jungen Jura-Studenten kennen, der über Hennis Fall eine Arbeit schreiben will – Anlass für Elsas Erzählen vom Leben ihrer Freundin.
Ein dritter Erzähler ist der Künstler Thomas Reuter. Er lebte und litt mit Hennis Brüdern im Heim und kennt die wahren Umstände, unter denen Matthias dort verstarb. Obwohl er genug damit zu tun hat, seine eigenen grausamen Erlebnisse zu bewältigen, und mit der Vergangenheit nicht mehr konfrontiert werden will, gibt er der Aufforderung nach, als Zeuge in einem Gerichtsprozess aufzutreten, in dem Vorkommnisse in dem Heim aufgeklärt werden sollen.
Die diversen Erzählperspektiven und Zeitebenen kombiniert die großartige Schriftstellerin Mechtild Borrmann souverän miteinander, um nach und nach ein differenziertes Bild ihrer Protagonistin Henriette und ihrer Lebensumstände zu entwickeln. Vor allem aber liegt ihr am Herzen, die unglaublichen Zustände in Kinderheimen der Zeit – nicht nur in kirchlichen – offenzulegen, wie sie in den letzten Jahren publik geworden sind. Die in vergleichsweise sachlichem Ton gehaltenen Beschreibungen von Demütigungen, Einschüchterungen, Bestrafungsaktionen ist beim Lesen kaum zu ertragen. Die Autorin betont, dass es sich um Fiktion handelt, sich aber in der Realität tausendfach so zugetragen habe. Am nachhaltigsten beeindruckt die gelesene Erfahrung des psychischen Drucks, der auf den Kindern lastete, die Aussichtslosigkeit all ihrer Versuche, Verständnis und Hilfe zu erhalten, aus dem Teufelskreis ihres Gefangenseins auszubrechen. Der entstehende Druck entlädt sich im Romanplot in Todesfällen, wobei die Bemühungen, diese aufzuklären, ein Krimi-Element einbringen und Spannung erzeugen, aber auch die Schwierigkeit des Wahrheitsbegriffs illustrieren.
Mechtild Borrmann ist ein außerordentlich beklemmender Roman gelungen, der den Leser emotional von Anfang an gefangen nimmt und nicht mehr loslässt. Das leisten die Beschreibungen schlimmer Vorgänge in einer klaren Sprache, die ohne emotionales Tremolo auskommt. Erst am Ende ist der Leser wirklich ein Wissender, nachdem die Autorin im Gefüge der komplexen Struktur alle relevanten Details zu den Ereignissen und Persönlichkeiten enthüllt hat.
Auch wie Borrmann das starre soziale System der Dorfgesellschaft vor Augen führt, ist meisterlich. Auf der einen Seite geben bestimmte Autoritätspersonen qua Amt, Bildung oder Besitz selbstbewusst die Richtlinien vor, andererseits übt die Gemeinschaft als solche Druck aus, indem sie konformes Verhalten erwartet, Abweichler ächtet, Störenfriede bestraft. In diesem Spannungsfeld ist die Freiheit des Einzelnen, sein Leben zu gestalten, höchst begrenzt, schon gleich, wenn er aus der Unterschicht kommt und einen unangepassten, eigenwilligen Eindruck macht wie Henni.