
Die Schneeschwester – Eine Weihnachtsgeschichte
von Maja Lunde
Nach dem Tod von Julians großer Schwester ist das Haus der Familie Wilhelmsen in Trauer erstarrt. Niemand bringt mehr Freude auf Weihnachten auf. Durch die Bekanntschaft mit einem fremden Mädchen voller Geheimnisse bewältigen sie den schmerzlichen Verlust.
Weihnachten ist abgesagt
»Die Schneeschwester« ist ein weihnachtliches Märchen ganz besonderer, zeitgemäßer Art. Zwar trägt sich die Handlung in der Vorweihnachtszeit zu und zielt auf das Christfest hin, zwar ist die Erzählung in vierundzwanzig Kapitel eingeteilt, zwar spielen weihnachtliche Gefühle und Rituale eine wichtige Rolle, doch geht es gleichzeitig um ein zweites Thema: Wie können wir nach dem Tod eines geliebten Angehörigen weiter leben? Die norwegische Autorin Maja Lunde (Übersetzung: Paul Berf) gestaltet ihre Geschichte kindgerecht und einfühlsam, ohne Rührseligkeit und Kitsch. Sie beschönigt nicht den Schmerz des Verlusts, vermag aber zu trösten. Die Handlung überzeugt vollkommen durch ihre Menschlichkeit, die Bedeutung wahrer Freundschaft, eine realistische Sprache und feinen Humor. Die märchenhaften Elemente vernebeln nicht die Realität, sondern versinnbildlichen psychische Vorgänge, die für ein Kind schwer in Worte zu fassen sind.
Im Mittelpunkt steht Julian Wilhelmsen, der jedes Jahr voll gespannter Vorfreude auf Weihnachten hinfiebert. Das ist für ihn gleich in zweifacher Hinsicht der schönste Tag des Jahres, denn an einem Heiligabend (norwegisch »Jul«) wurde er geboren. Ein paar Tage vorher beginnen die Schulferien, und mit ihnen setzen die immer gleichen emsigen Vorbereitungen ein, bis schließlich das ganze Haus vom Duft nach Pfefferkuchen, Räucherwerk, Klementinen, Kakao und Zimt erfüllt ist, der Baum geschmückt steht, alles im Lichterglanz erstrahlt und seine wunderbare Familie ihm und dem Christkind zu Ehren ein fröhliches Fest feiert.
Dieses Jahr wird Julian zehn Jahre alt, doch nichts ist so, wie es einmal war. Denn im Sommer ist seine große Schwester gestorben. Seither scheint die Familie das Leben vergessen zu haben. Die Eltern sind in Trauer erstarrt, und selbst die fünfjährige Augusta, die so gut nach Seife, Milch und Gummistiefeln riecht, hat ihr überbordendes Temperament verloren. Früher nannten die Eltern das wilde kleine Mädchen liebevoll »Dynamit«, aber jetzt hat sie für den heimkehrenden Bruder nur ein knappes »Hallo«. Zum Abendessen gibt es wie jeden Tag ein simples Fischgericht und wenige Worte zwischen den Kindern und den ernsten Eltern. Nichts duftet weihnachtlich, nirgends ein rotes Weihnachtssternchen, kein Adventskerzenhalter, keine Freude.
Trost und Abwechslung von dieser Tristesse findet Julian beim Schwimmen. Wasser ist sein Elixier, die regelmäßigen Atemzüge, die Bahnen, die er kraulend zieht, beruhigen ihn. Eines Tages bemerkt er, wie draußen am Fenster der Schwimmhalle ein sommersprossiges Mädchen seine Stupsnase platt drückt, um hineinzuschauen. Unter ihrer roten Mütze lugen rote Haare hervor, und mit ihrem dicken roten Mantel ähnelt sie dem Weihnachtsmann. Als Julian das Hallenbad verlässt, begrüßt ihn das unbekannte Mädchen mit eigenartiger Vertrautheit: »Da bist du ja endlich.«
Hedvig Hansen (so stellt sie sich vor) erweist sich als Ausbund an Lebenslust. Ununterbrochen quasselnd strahlt sie »Licht in die Winterdunkelheit« des Jungen. Fasziniert ist sie von seinen Schwimmkünsten, die ihn mit großem Stolz erfüllen sollten. Sie hingegen kann nicht schwimmen. Es zu erlernen sei ihr »größter Herzenswunsch im ganzen Universum«. Julian ist sicher, dass er ihr diesen Wunsch leicht erfüllen kann.
Julian vergisst seine tristen Gedanken vollends, als Hedvig ihn in ihr Zuhause mitnimmt. Die »Villa Mistel« ist eine Weihnachtswunderwelt, wo alles geschmückt ist und glänzt, als wäre bereits der Weihnachtstag angebrochen. Doch um dieses mysteriöse Haus, ja um Hedvig selber rankt ein ernstes Geheimnis, das der Junge erst erkunden muss.
All dies lässt die norwegische Autorin Maja Lunde ihren sensiblen, aufmerksamen Protagonisten selbst erzählen. Jeder ähnlich veranlagte jugendliche Leser wird berührt sein von Julians präzisen Beobachtungen der trauernden Familie und seinen Überlegungen dazu (»zwei Kopien, die nicht so recht wussten, wie meine Mutter und mein Vater normalerweise waren«), von seinen Bemühungen, sich aus der Traurigkeit zu erheben (»Denk an etwas Gutes«) und zu der sorglosen Fröhlichkeit der Weihnachtszeit zurückzufinden. Am Ende gelingt es ihm, die Übermacht der Traurigkeit zu besiegen, eine Balance zwischen trauerndem Gedenken und Lebensfreude herzustellen.
Verständige junge Leser (ab frühestens neun Jahren) werden diese Geschichte aufnehmen können – als Trost und Verständnishilfe, wenn sie bereits mit dem Thema Tod in der Familie in Berührung kamen, als Anstoß zum Nachdenken, wenn nicht. Tränen werden fließen, aber die lebhafte, unsentimentale Erzählweise mit stark wechselnden Gefühlen, flotten Dialogen, Gruseleffekten und rätselhafter Magie wird sie wieder trocknen. Traurigkeit wird geschickt aufgefangen von weihnachtlichem Zauber, von der Atmosphäre der Schneelandschaften und des leuchtenden Sternenhimmels, von der aufrichtigen Harmonie in der Familie und dem sorgsamen Umgang unter Freunden.
Meine Begeisterung für dieses Buch gründet zu einem guten Teil in seiner großzügigen Aufmachung, die die beschriebenen Wirkungen von Maja Lundes Erzählung voll entfaltet. Das leisten in erster Linie die zahlreichen farbkräftigen Illustrationen der norwegischen Künstlerin Lisa Aisato. Ihre ausdrucksvollen Portraits, oft aus frappierenden Perspektiven, manche über eine Doppelseite hin, treffen auf den Punkt die Stimmungen der Figuren, fangen das Wesen der dargestellten Szene ein. Daneben zieren die Seiten liebevoll abgebildete Gegenstände zur Winter- und Weihnachtszeit, neben denen seelenlose Massenprodukte und schicke Dekoartikel kalt aussehen. Der Detailreichtum aller Illustrationen belohnt intensives Betrachten. Viele Textseiten sind farbig unterlegt, der inhaltlichen Stimmung angepasst von freundlich hellen bis bedrohlich düsteren Tönen.
Bücher und Musik-CDs für die Advents-
und Weihnachtszeit finden Sie hier.
Schon das bildschöne Cover in feinem Prägedruck und festlich rot-weiß-goldenem Dekor ist ein Hingucker. Es stellt den weihnachtlichen Aspekt in den Vordergrund und charakterisiert bereits einige der Hauptpersonen mit ihren zugehörigen Attributen, während die beiden Protagonisten im zentralen Bilderrahmen durch einen romantischen Winterwald geradewegs auf den erwartungsfrohen Betrachter zulaufen.