Rezension zu »Der kalte Traum« von Oliver Bottini

Der kalte Traum

von


Politthriller · Dumont · · 448 S. · ISBN 9783832196592
Sprache: de · Herkunft: de

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Eine schwer erträgliche Wirklichkeit kehrt zurück

Rezension vom 14.03.2012 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Zwanzig Jahre nach dem Bürgerkrieg auf dem Balkan, dem Worte in vielerlei Hinsicht kaum beikommen können, versuchen Autoren, dieses Geschehen und seine Auswirkungen auf die Menschen in Romangestalt zu fassen – »Drift« von Michel Bozikovic [› Rezension], »Die Tigerfrau« von Téa Obreht, und nun »Der kalte Traum« von Oliver Bottini.

Obwohl zahlreiche Flüchtlinge mitten unter uns leben, obwohl einige der damals betroffenen Gegenden inzwischen zur EU gehören oder zukünftig gehören werden, und trotz der ausführlichen medialen Berichterstattung damals ist es erstaunlich, wie wenig die meisten von uns konkret über die Bevölkerung, die Ereignisse, die Hintergründe, die Geographie wissen – aber jeder hat vor Augen und Ohren, wie sich der Hass zwischen Serben, Kroaten, Bosniern, Krajina-Serben, Moslems, Orthodoxen in Gefechten und Grausamkeiten entlud, wie sie einander brutal niedermetzelten und aus dem Land vertrieben. Ebenso wie viele Familien wurde auch der frühere »Vielvölkerstaat« Jugoslawien auseinandergerissen. Die heutige politische Landschaft – Slowenien und Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und Montenegro – können wir auch auf der Übersichtskarte betrachten, die Oliver Bottini seinem Roman »Der kalte Traum« beigefügt hat, gefolgt von einem mehrseitigen Namens- und Ortsglossar.

Bottinis Anliegen war, einen außergewöhnlich gut recherchierten Politthriller zu schaffen, einen fiktiven Krimiplot, der dem Leser den kalten Schauer über den Rücken jagt, eingebunden in die historischen Ereignisse zwischen 1991 und 2010. Der Fokus des Autors richtet sich auf den Balkan, aber das globale Zeitgeschehen blendet er nicht aus – die alliierten Bombenangriffe auf Basra, irakische Raketen auf Israel, Demonstrationen gegen den Golfkrieg, die RAF ermordet Detlev Karsten Rohwedder, Berlin wird Hauptstadt Gesamtdeutschlands, die Anerkennung Kroatiens durch Genschers Außenpolitik, und bei den Australian Open verliert Ivan Lendl gegen Boris Becker ...

Als die serbische Armee 1991 Slowenien und Kroatien überfällt und der Bürgerkrieg in Jugoslawien seinen Lauf nimmt, da sieht der 20-jährige Deutsche Thomas Æavar, Sohn kroatischer Gastarbeiter, noch einer glücklichen Zukunft entgegen, ist er doch frischgebackener Abiturient, stolzer Autobesitzer, verliebt in die Serbin Jelena und hat einen Job als Chauffeur für Josip Vrdoljak, den Mitbegründer der »Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft«, einer rechtskonservativen Partei. Dann aber wühlen ihn die Kriegsbilder im Fernsehen auf, die Berichte, die er im Radio hört, und eine Großdemonstration in Stuttgart, bei der Vrdoljak auf der Rednerbühne spricht und sein Vater in der Menge zuhört ... Obendrein angestachelt von häuslichen Diskussionen, erwacht in Thomas ein Verantwortungsgefühl für die Heimat seiner Eltern. Ist Kroatien denn nicht auch seine Heimat? Muss nicht auch er einen Beitrag leisten, in den Krieg ziehen? Wenn er geht, wird er Jelena verlieren, die ohnehin als Serbin einen schweren Stand in der kroatischen Familie Æavar hat.

So wird Thomas zum »Kriegstouristen«, zu einem, der nicht ständig im Einsatz ist. Als erstes versucht er, in einem Auto des Roten Kreuzes Waffen zu schmuggeln. Dabei wird er sofort erwischt und verhaftet, aber durch einen Protégé, Dr. Richard Ehringer, Politiker im Referat Jugoslawien des Auswärtigen Amtes, wieder freigeboxt. Dann folgen Kriegseinsätze. Unter General Ante Gotovina, dem 2011 zu 24 Jahren Haft verurteilten Kriegsverbrecher, nimmt er an der Operation »Sturm« teil, einer der vier großen Säuberungsaktionen der Kroaten. Im Jahre 1995 verliert sich das Leben Thomas Æavars spurlos – angeblich ist er tot, in einem Massengrab verscharrt.

Doch im Jahr 2010 interessieren sich auf einmal mehrere Menschen für Thomas. Da tauchen zwei kroatische Geheimdienstler bei Thomas' bestem Freund Marcus Bachmeier in seinem Heimatort Rottweil auf. Was mag er den beiden Schlächtern erzählt haben? Wenig später findet die Polizei Marcus tot in seiner Scheune auf ...

Seit Jahren hat der Kripobeamte Lorenz Adamek nichts mehr von seinem Onkel Dr. Richard Ehringer gehört – nun erhält er einen Anruf von ihm: Lorenz möge doch mal die Datenbanken nach einem Thomas Æavar durchsuchen. Das sei ein alter Bekannter, den er aus den Augen verloren habe ...

In Zagreb ist eine investigative Journalistin, Yvonne Ahrens, auf der Suche nach einem Mann, von dem sie nur ein Zeitungsfoto besitzt. Es zeigt einen kroatischen Soldaten, der einem greisen serbischen Zivilisten eine Pistole an die Schläfe hält; Bildunterschrift: »Ein serbischer Schlächter zittert vor der gerechten Strafe durch den jungen Kapetan«. Und wir ahnen es schon: Der junge Kapetan ist Thomas Æavar.

Warum wird ausgerechnet jetzt die Hetzjagd auf Thomas Æavar eröffnet? Wie wird sie verlaufen? Der mehrfach preisgekrönte deutsche Autor Oliver Bottini schildert auf erschütternde, fesselnde Weise, was sich da abspielt. Am Ende bleibt der Eindruck des Grauens in einem irrwitzigen Krieg, das Gefühl der Ohnmacht gegen verlogene Politiker – und der Horror vor dem Wesen Mensch, das vor nichts zurückschreckt. Kleine und große Verbrecher haben da ihr dreckiges Handwerk betrieben, sind nach wie vor in Netzwerken verbunden, schützen einander, räumen Zeugen aus dem Weg. Lange hat sich Kroatien geweigert, seine Kriegsverbrecher an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag auszuliefern; erst unter dem Druck der EU-Beitrittsverhandlungen hat sich etwas bewegt. Viele Folterknechte laufen immer noch frei herum und besetzen hohe, einflussreiche Posten.

Bottinis Politthriller könnte fast eine geschichtliche Lektion sein. Ein wenig Wärme erhält »Der kalte Traum«, der leider kein Traum geblieben ist, durch die kitschfrei erzählte intensive Beziehung zweier Menschen, die ihre Liebe nur im Geheimen leben können.

Alles hat seinen Preis, auch die Lektüre dieses großartigen Buches: Der Leser wird stark gefordert durch die vielen, für unseren Sprachraum schwierig zu merkenden Namen, und da hilft auch das Glossar kaum weiter. Aber die meisten sind ohnehin nur Schall und Rauch: Die Kernhandlung wird sehr lange im Gedächtnis bleiben.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner aktuellen Lesetipps aufgenommen.


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