Sein Garten Eden
von Paul Harding
Ein farbiger ehemaliger Sklave zieht mit seiner weißen Frau auf eine kleine Insel. Über hundert Jahre lang leben und vermehren sich dort ihre Nachfahren und wenige Zugezogene. Ihr Dasein ist entbehrungsreich, ihre Gemeinschaft solidarisch, ihre körperliche Verfassung beeinträchtigt – eine Gefahr für die Zivilisation, sagen Wissenschaft und Behörden.
Eden, Hölle und Genetik
Man darf sich Benjamin Honey im Jahr 1793 als glücklichen Menschen vorstellen. Seine ersten fünfzehn Lebensjahre musste er als Sklave verbringen, dann erlangte er seine Freiheit und wohl auch seine Würde als »Amerikaner, Bantu, Igbo«. Näheres über seine Wege ist nicht überliefert, und ganz sicher wären die Zeugnisse über ihn widersprüchlich. Jedenfalls lebte er als freier Mann im Staate Maine, heiratete ein Mädchen aus Irland und zog mit ihr auf das unbewohnte Inselchen Malaga Island direkt vor der Küste. Nur eine Brücke trennte sie dort vom Festland, wo sie zwar nominell Bürger wie alle anderen waren, aber als schwarz-weißes Paar gewiss nicht von allen so behandelt worden waren. In Jute-Säckchen hat Benjamin Samen unterschiedlicher Apfelsorten mitgebracht und legt nun in seiner neuen Heimat mit einigem Erfolg »seinen Garten Eden« an.
Dieser Benjamin Honey ist der Stammvater der Personengruppe, von deren Schicksal der 1967 in Massachusetts geborene Schriftsteller und Musiker Paul Harding in seinem Roman »The Other Eden« erzählt. Harding tut das auf ganz eigene, so realitätsnahe wie bezaubernde, so Anteil nehmende wie Distanz wahrende, so poetische wie nüchterne Weise, dass das Buch 2023 für den Booker Prize und den National Book Award nominiert wurde.
Zum Protagonisten wird Benjamin Honey allerdings nur zu Beginn des Buches. In seiner literarischen Version der ganzen Geschichte beschränkt sich der Autor auf den ersten drei Seiten darauf, die wenigen einigermaßen verbürgten Informationen über Benjamins Leben zusammenzufassen. Die Jahrzehnte des mühsamen Aufbaus einer Lebensgrundlage für seine Familie überspringt der Autor und beginnt seine eigentliche Erzählung erst mehr als ein Jahrhundert später, im Jahr 1911.
In der Zwischenzeit sind nur wenige andere Menschen aus allen Windrichtungen auf die Insel geflohen oder verschlagen worden und bilden mit den Nachfahren der Honeys eine zwanglose, anspruchs- und regellose Gemeinschaft. Über Generationen haben sich alle wahllos miteinander vermehrt. Die Folgen sieht Matthew Diamond, ein weißer Missionar und pensionierter Lehrer, als er 1911 die Insel betritt. Da findet er »Destillate aus angloamerikanischen Vätern und schottischen Großvätern, irischen Müttern und kongolesischen Großmüttern, kapverdischen Onkeln und Penobscot-Tanten« vor sich. Ihr Aussehen mag an den einen oder anderen Vorfahren erinnern oder auch von Erbschäden zeugen, aber darüber macht sich hier keiner Gedanken. Jeder hilft jedem beim Hausbau, beim Nähen und Flicken der einfachen Kleidung, bei der Feldarbeit, und manche entwickeln dabei großes Geschick. Was die Erde abwirft, reicht so gerade zum Überleben. Apple Island (so ist die Insel im Roman benannt) ist in gewisser Hinsicht ein bescheidenes, bitterarmes Paradies, wo jedes Individuum genau so in den Tag hinein lebt, wie es beliebt. Mit der Zivilisation jenseits der Brücke auf dem Festland hat man bis auf seltene Gelegenheitsarbeiten wenig zu tun. Was man dort von ihnen hält, ahnt niemand.
Matthew Diamond kommt voller guter Vorsätze auf die Insel. Die Bewohner für das Christentum zu missionieren ist nicht sein Hauptanliegen, sondern Erziehung und Bildung. Wissenschaftlich ist er dazu ganz auf der Höhe seiner Zeit. Seit Ende des 19. Jahrhunderts war die neue Lehre von der Erbgesundheit (Eugenik) aufgekommen und hatte vor allem in Europa, den USA und Japan über alle politischen Lager hinweg viele Anhänger gewonnen. Man stützte die Theorie durch medizinische Studien und leitete konkrete Maßnahmen ab, wie das Erbgut der Bevölkerung bewahrt und verbessert werden könne. Durch die Verbrechen der Nationalsozialisten und japanischer Streitkräfte geriet der einst als fortschrittlich angesehene Ansatz nach dem 2. Weltkrieg in Verruf und wird heute meist als rassistisch geächtet.
Unter dem noch ungetrübten wissenschaftlichen Blickwinkel der Eugenik ist Matthew Diamond besorgt über die vorgefundenen Zustände. Schwarz und Weiß unter einem Dach, das Fehlen jeglichen Bewusstseins für Hygiene, körperliche Anomalitäten, verwilderte oder in ihrer Entwicklung zurückgebliebene Kinder – welche Krankheiten und andere Übel mögen diese Menschen wohl verbreiten können? Schmutz, Hässlichkeit und Unordnung widern ihn an.
Andererseits erkennt er auch erstaunliche Fähigkeiten und Talente, die er als förderungswürdig erachtet. Mit Hilfe der Erwachsenen errichtet er eine Schule. Dort erteilt er Unterricht in Lesen und Schreiben. Viele Kinder bleiben bald wieder weg, andere kann er auch für Kunst, Musik und Latein begeistern. Vor allem der junge Ethan beeindruckt Matthew durch sein Zeichentalent derart, dass er dafür plädiert, er solle es auf dem Festland weiterentwickeln. Tatsächlich, wenn auch schweren Herzens, lassen die Eltern ihren begabten Sohn in die Fremde ziehen, damit er dort sein Glück finden möge. Wie es ihm ergeht, lesen wir im II. Kapitel. Zusammen mit Passagen aus Textdokumenten der Zeit begleiten die Erzählung wunderbare Beschreibungen der Kreidezeichnungen, die Ethan Honey angefertigt hat, als er in der Fremde von Erinnerungen und Heimweh geplagt wurde.
Ein Jahr nach Matthews Ankunft schicken die staatlichen Behörden eine Truppe von Wissenschaftlern, Ärzten, Reportern und Fotografen auf die Insel, um deren Bewohner methodisch korrekt zu vermessen. Ein typischer Befund lautet dann »Mulatte, hochgradig geistesschwach«. Matthew steht mit ambivalenten Gefühlen am Rande, mischt sich aber nicht ein. Schließlich folgt der Gouverneur den fundierten Erkenntnissen der Wissenschaft und lässt den Familien – größtenteils Analphabeten – seinen Räumungsbeschluss überbringen. Auch angesichts der anschließenden grausamen Vertreibung schweigt Matthew wieder.
Paul Harding ist ein herausragender Erzähler. Dank der großartigen deutschen Übersetzung von Silvia Morawetz können auch wir uns begeistern, wie fein, zartfühlend und prägnant er unterschiedlichste Charaktere, deren schlichtes Dasein unter tristen Lebensbedingungen als auch ihr kleines Glück zu beschreiben vermag. Es entsteht das Bild einer überschaubaren Gemeinschaft, die mit all ihrer Kraft zusammenhält und dabei immer zuversichtlich nach vorne sieht. Aber eine naturnahe Idylle, wie manche zivilisationsmüde Zeitgenossen sie sich erträumen, ist die abgesonderte Inselwelt keineswegs. Eindringliche Episoden der Abhängigkeit von den Unbilden der Natur und von blutiger Grausamkeit, Missbrauch, Gewissensnöten, Mord und Selbstmord lassen keine Illusionen aufkommen.
In seinen Schilderungen lässt der Autor zwar eine gewisse Nähe zu seinen Figuren zu, auch Faszination für einige Gestalten mit absonderlichem Aussehen oder Handeln, woraus Mitgefühl entsteht, aber nie legt Harding es darauf an, Mitleid zu erzeugen. Schnell zieht er sich wieder zurück auf seinen Beobachtungsposten. So spüren wir von Anfang an, dass dieser eigenartigen Menschengruppe in ihrer Fragilität wohl irgendwann Unheil drohen wird, wenn sie ins Blickfeld der ›Außenwelt‹, ihrer Normen sowie menschlicher und behördlicher Intoleranz gerät.
Mit dem Auftritt Matthew Diamonds und später der staatlichen Abgesandten sehen wir ein interessantes Zusammenspiel zwischen ›der‹ Wissenschaft und den Theorien und Maßnahmen, die sie und die Politik aus ›gesicherten‹ Erkenntnissen abgeleitet haben. Die gründliche Inaugenscheinnahme der Inselbewohner bestätigt schlüssig, was die Eugenik postuliert hat: Aus der Vermischung des Erbgutes resultieren minderwertige, degenerierte Nachfahren mit verstärkter Veranlagung für Faulheit, psychische Defekte, moralische Verderbtheit und Verbrechen. Um die ›genetisch intakte‹ Bevölkerung vor der Ausbreitung des Übels zu schützen, muss der Staat entschieden handeln. »Das Beste wäre, die Hütten mitsamt dem ganzen Unrat niederzubrennen«, sagt Gouverneur Frederick Plaisted einem Reporter.
Nach über einem Jahrhundert drastischer Erfahrungen mit menschenverachtendem, Tod bringendem Rassismus ist es heute billig, sich über die damalige Denk- und Handlungsweise zu echauffieren. Darauf fällt Paul Harding nicht herein. Im III. Kapitel beschreibt er die konsequente Räumung der Insel schonungslos, aber faktisch. Der behördliche Akt schafft unter den machtlosen Opfern eine »Art Hölle«. Sie »hocken alle zusammen wie Ratten in einem Nest. Verdreckt, zerlumpt, Tiere … Sehen einen bloß an, blöde und beschränkt«.
Wie schön, dass die deutsche Übersetzung diffamierende Ausdrücke des Originaltexts beibehält, anstatt sie durch beschönigende Abmilderungen zu verfälschen. Wie traurig, dass dafür heutzutage eine »editorische Notiz« als Warnung oder vorauseilende Entschuldigung erforderlich erscheint.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2024 aufgenommen.