Die Mission des Kochs
von Andrea Camilleri
Ein gefeuerter Werftarbeiter nimmt sich das Leben. Ein skrupelloser Unternehmer wird erschossen. Ein ungewöhnliches Segelschiff läuft mal hier, mal da ein und gleich wieder aus. In der Questura von Montelusa übernimmt derweil ein großspuriger FBI-Agent das Ruder, und Montalbano wird in den Ruhestand bugsiert. Alles ein paar Nummern zu groß für das beschauliche Vigàta, wie wir es kennen.
Ein völlig Unbekannter
»Ein völlig Unbekannter.« Das ist der letzte Satz dieses Krimis um den tüchtigen Salvo Montalbano, Chef des Kommissariats im sizilianischen Provinzstädtchen Vigàta. In achtundzwanzig Kriminalromanen und über siebzig Erzählungen hat Andrea Camilleri (1925-2019) diesen Charakter schlüssig weiterentwickelt, vom jungen Berufsanfänger bis zum reifen commissario kurz vor dem Ruhestand. Seiner internationalen Fangemeinde ist er über fünfundzwanzig Jahre hin ans Herz gewachsen, eine ausgereifte, runde Persönlichkeit mit Licht- und Schattenseiten, mit scharfem Verstand, von tiefer Menschlichkeit und untrüglichem Gerechtigkeitssinn [› Einführung].
»Ein völlig Unbekannter« – so distanziert sich dieser seriöse, gestandene Mann im Rückblick selbst von dem Bild, das er in diesem Krimi abgeben musste. »Er würde alles dafür tun, dass diese Geschichte niemals Teil seiner selbst wurde. Er würde sie verleugnen und für immer aus seinem Gedächtnis tilgen. An Bord der Alcyon war ein Mann gewesen, der weder seinen Namen trug noch sein Gesicht hatte. Ein völlig Unbekannter.«
Das ist natürlich ein literarischer Trick, wie Andrea Camilleri, der alte Fuchs, den Schock seiner Eskapade in ein komplett anderes Genre – das des action-Thrillers all’americana – im Nachhinein abzumildern versucht. Doch da ist das Kind längst in den Brunnen gefallen, manch treuer Leser verwundert oder enttäuscht, verprellt oder entrüstet. Was hat den Autor nur bewogen, dass er dieses Buch überhaupt veröffentlicht hat? Aufschluss gibt das Nachwort, und davon setzt der Autor sicherheitshalber gleich zwei an. Im ersten erläutert er, dass diesem Buch ein zehn Jahre altes Drehbuch für ein (gescheitertes) italienisch-amerikanisches Filmprojekt zu Grunde liege. Das habe er in einen Montalbano-Roman umgewandelt, wobei »dessen nicht literarischer Ursprung – im guten wie im schlechten Sinn – zwangsläufig zu spüren ist«.
Im zweiten deutet er an, was er aktualisiert hat und was nicht, und schließt mit der auffällig bemüßigten Feststellung: »Ich finde, es ist ein ausgezeichneter Montalbano-Roman.« Und Camilleris Hausverlag Sellerio kannte gewiss weitere gute Argumente für die Veröffentlichung.
Immerhin die erste Hälfte des Buches fühlt sich wie ein ›echter Montalbano‹ an. Der Schauplatz ist Vigàta, das Personal von Catarella bis Adelina vertraut, die Handlung passt zum Ort und hat eine schlichte sozialkritische Relevanz: Giovanni (»Giogiò«) Trincanato, Playboy und verantwortungsloser Erbe einer Werft, hat den Traditionsbetrieb mit seinem Lotterleben in den Konkurs gewirtschaftet. Einer der um ihre Existenzgrundlage betrogenen Arbeiter verzweifelt und erhängt sich. Der Krimi gewinnt an Fahrt, als »Giogiò« ermordet aufgefunden wird. Wir finden lieb gewonnene Bausteine wie die spitzzüngigen Gespräche im Kommissariat, Montalbanos Driften zwischen Träumen und Realität, seine ausufernden Mahlzeiten in Enzos Trattoria (»Der Auberginenauflauf schmeckte so köstlich […]: ›Bring mir noch eine Portion.‹), Spaziergänge auf der Mole, Probleme mit den Symptomen des Alterns, Adelinas leckere Küche.
Aber irgendwie hängt schon dieser Teil in der Luft. Haben sich Livia und Salvo nicht nach Jahren des Gezänks im letzten Band getrennt? Keine Silbe dazu hier – beide gehen miteinander um wie immer, mal liebevoll, mal gereizt. Und überhaupt fehlt jede Kontinuität zum bemerkenswerten Vorgängerband »Ein tiefer Blick in die Seele« (»Il metodo Catalanotti«) [› Rezension].
Mit dem Erscheinen eines merkwürdigen Segelschiffes namens »Alcyon« setzt der zweite Teil ein. Es ist eine Art ›Fliegender Sizilianer‹, der nahezu unbemannt und scheinbar konzeptlos durchs Mare Nostrum geistert und immer nur für Stunden anlandet, um Proviant aufzunehmen. Mehr darüber und über den Plot, der mit dem Segler verknüpft wird, anzudeuten, würde denjenigen Lesern, die James Bond gut finden und sich überraschen lassen möchten, den Spaß verderben. Die Handlung ist zwar reich an unvorhergesehenen Wendungen, aber nach meinem Geschmack insgesamt unrealistisch und in die Länge gezogen, in etlichen Details unlogisch und am Ende völlig überdreht. Salvo Montalbano glänzt diesmal nicht durch Menschenkenntnis und messerscharfe Überlegungen, sondern – wer hätte das je von ihm erwartet? – mit scharfen Messern. Diese Verflachung ist wohl gemeint, wenn die italienische Verlagswerbung jubelt: »Montalbano ist abenteuerlustiger als je zuvor.« Dazu passt, dass der sonst so kultivierte, belesene Protagonist ungebremst droht und flucht wie ein Kalfatergehilfe und bei Frauen nur Augen für ihre körperlichen Reize hat.
Dass in der Gesamtbewertung noch drei Sterne zusammenkommen, liegt an einigen Details, die erkennen lassen, dass dieses Mischprodukt denn doch aus der Werkstatt eines anscheinend nimmermüden literarischen Vollblutkünstlers stammt. Wie er das erste Auftauchen des geheimnisvollen Schiffes in eine traumähnliche Szene bettet, später eine Mondfinsternis gestaltet, wie er eine im Grunde alberne Maskerade über Seiten hin zwischen Komik und Tragik oszillieren lässt, wie einige Figuren (etwa der Maskenbildner) so zugespitzt erscheinen, dass man manchmal glauben möchte, das Ganze sei eine Persiflage (bis man den Glauben daran schnell wieder verliert) – das sind die nicht sehr zahlreichen Glanzlichter dieses Romans (den – wie schon die Vorgängerbände – Rita Seuß und Walter Kögler übersetzt haben).
Anders als all seine Vorgänger entlässt uns dieser disparate Krimi nicht nachdenklich, sondern mit einem bitteren Nachgeschmack. Falls er eine Satire oder ein Experiment sein sollte, so ist beides gründlich missraten – auf Kosten des Protagonisten, der zur Karikatur seiner selbst verzerrt wird. Damit hat der Autor ausgerechnet eine seiner Stärken verraten: die die Zeitläufte überdauernde Verlässlichkeit seiner Figuren und seines Weltbilds.