Im Schatten der Väter
Zur Beerdigung seiner Mutter Helen kehrt Antoine Demarsands, 34, Anwalt in Kalifornien, nach Genf zurück. Schwester Sophie arbeitet bei Sotheby's, und Bruder Alexandre ist in die Banker-Fußstapfen des verstorbenen Vaters Paul gestiegen: Er ist Manager bei der Privat- und Familienbank Demarsands, Contie & Cie.
Gerade ist ein Buch des renommierten Schweizer Historikers Professor François Bonnard erschienen. Darin attackiert er die Schweizer Banken, Steigbügelhalter der Nazis gewesen zu sein, am Kriegswaffengeschäft partizipiert und es den SS-Schergen leicht gemacht zu haben, geraubtes Vermögen in Sicherheit zu bringen. Noch heute liegen gigantische Schätze in den Tresoren, die rechtmäßig den Nachfahren der Holocaust-Opfer zustehen.
In einem Brief wendet sich der Professor direkt an die Kinder von Paul Demarsands. Darin konfrontiert er sie mit der Behauptung, Vater Paul persönlich habe Reichsmarschall Hermann Göring geholfen, Lastwagen voller Reichsvermögen auf geheimen Wegen über die Grenze in die Schweiz geschmuggelt zu haben. Nie hat man im Hause Demarsands über Vaters Vergangenheit geredet, und so treffen die Beschuldigungen des Professors auch Antoine völlig unvorbereitet. Sein Bild vom Vater war stets positiv gewesen, und so kann er sich nicht vorstellen, dass er der Sohn eines Kollaborateurs sein soll. Aber nun beschleichen ihn doch starke Zweifel.
Abwechselnd in der Vergangenheit (1945) und der Jetztzeit (1997) angesiedelt, entwickelt Simenon sein etwas hölzernes Handlungskonstrukt, gestaltet dabei aber, indem er sich vieler traditioneller Spannungselemente bedient, einen filmreifen Action-Thriller.
Nachdem Antoine mit Zeitzeugen gesprochen hat, erscheinen ihm die damaligen Ereignisse in neuem Licht. Während er geradezu besessen seine Nachforschungen betreibt, hängt ihm gleichzeitig die CIA an den Fersen, und obendrein jagt ihn ein Killer. Den hat ihm ein überlebender Naziverbrecher, der großes Interesse daran hat, dass nichts aufgedeckt wird, auf den Hals gehetzt.
Kein Wunder, dass mit diesen Beteiligten und unter diesen Umständen getötet wird, was das Zeug hält. Selbst der Cordon bestens ausgebildeter Sicherheitsleute der Demarsands steht chancenlos auf der Abschussliste eines Einzelkämpfers. Doch wir ahnen es: Antoine wird als strahlender Held die blutige Schlacht überleben, der bisher unentdeckte Nazi-Kriegsverbrecher wird dingfest gemacht. Ende gut, alles gut - und ein bisschen viel Schwarz-weiß-Malerei.
Die NS-Zeit, Kollaboration und Schuld der braven Eidgenossen, die Suche eines Sohnes nach der Wahrheit - das sind also die Themen von Pierre Simenons Erstlingsroman "Im Namen des Blutes" (Au nom du sang versé, übersetzt von K. Schatzhauser). Die meisten heute lebenden Europäer wurden erst nach dieser schrecklichen Phase der Geschichte geboren, und nicht wenige junge Menschen haben nur geringe oder teilweise verquere Kenntnisse davon. Wer dieses Buch liest, vielleicht vom prominenten, gepflegte Spannung verheißenden Autornamen, dem ominösen Titel und dem Cover angezogen, erfährt auf unterhaltsame Weise und ganz nebenbei auch ein paar Puzzlestückchen aus einer Zeit, die die Welt verändert hat.
Gleichzeitig fragt man sich, ob die genannten Themen nicht mittlerweile in sämtlichen Medien und Textsorten ausgiebigst behandelt wurden. Dass Pierre Simenon (1959 in Lausanne geboren) sie dennoch als erstes Sujet auswählt, hat persönliche Gründe. Nicht nur, dass seine eigene Vita Parallelen zu der seines Protagonisten aufweist; man hat auch seinem Vater - dem Krimi-Altmeister Georges Simenon - Nähe zu den Nazis anzuhängen versucht.
Mit seinem Schriftsteller-Debut startet Pierre Simenon bereits seine zweite Karriere. Zuvor war er Finanzanalyst bei einer Genfer Privatbank, zog dann nach Kalifornien, wo er bis 1987 in Los Angeles als Anwalt tätig war. Nach persönlichen Schicksalsschlägen sehnte er sich nach einer Pause, nach einer Lebensveränderung.
Ob der Sohn als Autor aus dem Schatten seines Vaters treten kann? Schwierig, denn er wird sich immer wieder erneuten Vergleichen stellen müssen.