Die Asche meines Vaters
Klaus Weilheim wusste, dass der Leberkrebs ihm nicht mehr viel Lebenszeit vergönnen würde. Für seine Tochter Nora aber kam sein Tod mit 75 Jahren überraschend. Die Journalistin, 35, wusste ohnehin nicht viel über ihren verwitweten Vater. Egal, als Einzelkind würde sie Universalerbin seines stattlichen Vermögens sein – Gemälde, Aktien, eine Eigentumswohnung mitten in Paris. Zur Testamentseröffnung wird sie ins Notariat des Maitre Charles Didier im feinen Palaisviertel Rue du Faubourg Saint-Honoré einbestellt.
Unerwarteterweise ist eine weitere Person zugegen, der Notariatskandidat Magister Bernhard Petrovits aus Wien, wie er sich mit angedeutetem Handkuss vorstellt. Und das Testament hält eine weitere Überraschung bereit. Das Erbe ist an einen eigenartigen Auftrag gekoppelt. »Nora Weilheim soll die Urne mit meinen sterblichen Überresten von Paris über Wien an einen von mir zu bestimmenden Ort in Österreich transportieren, wo meine Asche ihre letzte Ruhe finden wird. Ein Teil der Reise soll ausschließlich zu Fuß erfolgen, und zwar unter notarieller Aufsicht. Die Etappenziele werden von Maitre Charles Didier jeweils am Vortag telefonisch oder per Mail durchgegeben.« Bei Nichterfüllung geht das gesamte Vermögen an einen Pharmakonzern, der mit Versuchstieren experimentiert.
Weder Österreich noch das Wandern gehören zu Noras Favoriten. Sie ist ein komfortables Leben in Frankreich gewohnt. Aus welchem Grunde will ihr Vater ihr einen derartigen doppelten Tort antun? Und was hat es mit der Klausel der notariellen Aufsicht für eine Bewandtnis? Soll der junge Bernhard im Konfektionsanzug von der Stange und mit brav gescheiteltem Haar als verlängerter Arm des Notars neben ihr durch Österreich trotten, um die Urne im Rucksack und ihre Schrittzahl zu überwachen?
So sehr sich alles in Nora gegen das Projekt sträubt, drängt ihr Verstand sie doch, die missliebigen Bedingungen zu akzeptieren, schon weil die Alternative, Tierexperimente zu finanzieren, ja wohl das Allerletzte wäre. So nimmt sie nach einer Mini-Zeremonie im Krematorium die heiße Ware in Empfang, steckt sie in eine maßgeschneiderte Kunststofftasche, und die ungleichen Protagonisten machen sich auf den Weg. Bis Wien dürfen sie das Flugzeug nutzen, wobei »Papa in der Tüte« natürlich gehörige Probleme beim Sicherheitscheck verursacht.
Dann erreicht die beiden die erste Zielangabe, von Klaus zu Lebzeiten formuliert und vom Maitre als mp4-Video auf Bernhards Handy spediert. Jetzt gehe es »zum Kloster im Südwesten«, heißt es reichlich vage, und Nora ist ungehalten: »Was ist das für ein Scheiß, geh zum Kloster im Südwesten ... klingt ... wie aus einem blödsinnigen Roman von Paulo Coelho.« In den nächsten Tagen folgen noch fünf weitere Instruktionen, die die zwei Wanderer samt Urne auf einer Klosterroute – Heiligenkreuz, Mariazell, Admont – bis ins Ennstal dirigieren.
Die Anweisungen sind begleitet von ernsten Gedanken, die der Vater einfühlsam für seine Tochter formuliert, die sie aber nicht wie gewünscht erreichen. Bald schon gehen seine »Weisheiten und Andeutungen« Nora gehörig »auf den Sack«. Dabei war so eine ausgiebige Wanderung mit seiner Tochter immer der Wunschtraum des Vaters gewesen. Beim Durchschreiten der beeindruckenden Natur- und Kulturlandschaft hätte er ihr gern vermittelt, wie er sich nach dem Unfalltod seiner Frau als einsamer Mann und alleinerziehender, liebender Vater fühlte, wie er nach einem Sinn im Leben und nach Offenbarungen eines höheren Wesens suchte. Als Gründe, warum er seine Absicht nicht realisiert hat, nennt er bedauernd, dass er Seele und Geist nicht ausreichend fortentwickelt habe; vor allem hätten ihn zeitlebens »Angst vor der vollkommenen Hingabe«, »Angst vor dem großen Vertrauen« gehindert. Erst in seiner letzten Nachricht, einem handgeschriebenen Brief, enthüllt Klaus sein Kernproblem, das ihn davon abhielt, sich seiner Tochter innerlich zu nähern: Er ist ein Kriegskind von Kriegseltern, die selbst niemals Gefühle zeigten und ihren Kindern keine Gefühlsregungen durchgehen ließen. Die einzige länger zu spürende Berührung durch die Hand der Eltern war eine Ohrfeige. »Zähne zusammenbeißen« lautete die Überlebensdevise. So hatte Klaus nicht lernen können, seine Tochter zu umarmen, ihr Liebe und Vertrauen zu schenken.
Überzeugt hat mich dieser Roman nicht, weder in der Figurencharakterisierung noch im Plot noch stilistisch. Nora, als freie, aber erfolglose Journalistin, chaotisch, sturköpfig, stolz und »klug« gezeichnet, fällt hauptsächlich durch ihre unsensible, arrogante Art auf (die ich mit »Klugheit« nicht verbinden kann); ihr Begleiter, der Jurastudent Bernhard, ist weitgehend aus Klischees zusammengesetzt (Pedant, Asket, Veganer, Blumenfreund), die mäßig lustige Szenen generieren (wenn er etwa stets mit den ultimativen Hausfrauentipps bei der Hand ist oder Nora nachhakt, wie denn Veganertum und Blowjob zusammengehen). Am Ende harrt hinsichtlich seiner Rolle eine Überraschung, doch man konnte sich schon vorher ausrechnen, wie es kommen könnte.
Einzig der verstorbene Vater sorgt in seinen Videobotschaften für Tiefe. Jedenfalls hat er mehr Nachdenklichkeit zu bieten als seine oberflächliche Tochter, und gleichzeitig ist ihm klar, dass sie keine rechte Antenne dafür hat (»Hallo, mein liebes Kind ... Es tut mir so leid, dass ich dich erschrecke ...«). Er hat sein gesamtes Leben mit einer Lüge gelebt. Nur über den posthumen Umweg kann er sich ihr stellen und spät Verantwortung übernehmen. (Da wartet erzähltechnisch noch ein spannendes Geheimnis auf seine Auflösung.)
So schlingert der Roman zwischen seinen unterschiedlichen, wahrscheinlich unvereinbaren Ansprüchen dahin: das schmerzhafte Scheitern einer Lebenslüge ernsthaft zu gestalten; zwiespältige Charaktere zu entlarven; einen Plot zu verfolgen, der wie ein Roadmovie wendungsreich voranschreitet, Spannung erzeugt und seine Protagonisten vorführt. Der Ton ist ein permanentes Kontrastprogramm: Während sich der Vater alle Mühe gibt, seine Nöte und Anliegen in Worte zu fassen, kommen die Erlebnisse (etwa mit der Urne) und Unterhaltungen der beiden Wanderer oft kaum über platte Situationskomik hinaus.
Einerseits ist die Handlung nah an die moderne Alltagsrealität der Orte, Verkehrsmittel, Technik und Einstellungen (Trauer) gebunden, andererseits fehlt schon dem Grundkonzept die Überzeugungskraft: Würde jemand wie Klaus Weilheim – »ein gebildeter, kultivierter Mensch, vielleicht sogar ein Mann von Welt« –, nachdem er ein Berufsleben voller Erfolge gemeistert hat, sein wichtigstes persönliches Anliegen tatsächlich so umständlich aufbereiten und dann auch noch darauf verzichten, das Ergebnis selbst zu erleben?