
Kleine und große Helden
In Italien ist Maurizio de Giovannis Krimi-Reihe über das neapolitanische Kommissariat Pizzofalcone bereits auf sechs Bände angewachsen. Sie fanden großen Anklang bei den Lesern im In- und Ausland und wurden für das Fernsehen verfilmt (im Frühjahr 2017 auf RAI erstmals ausgestrahlt). Ihr Erfolg beruht wohl nicht zuletzt darauf, dass im Mittelpunkt nicht nur ein Protagonist in seiner Auseinandersetzung mit einem oder mehreren Widersachern steht, sondern ein ganzes Team, das parallel mehrere Fälle abarbeiten muss. Man kauft also, wenn man das so sehen will, gleich einen ganzen Strauß von Krimiplots ein und wird abwechslungsreich unterhalten wie in einem Magazin.
Überdies sind die »bastardi« von Pizzofalcone alles andere als normale Polizisten. Vielmehr ist ihr Kommissariat eine Art Strafkolonie für sechs »gefallene Gesetzeshüter«, denen man eine letzte Chance zur Rehabilitierung eingeräumt hat. Jedes Mitglied in diesem versprengten Häuflein trägt an Fehlern in seiner dunklen Vergangenheit, hat charakterliche Schwächen, leidet unter besonderen familiären Problemen, neigt zu knapp neben der Spur laufenden Verhaltensweisen. Die anderen Reviere in Neapel geben ihnen keine Chance und beobachten das Experiment mit Häme und Misstrauen.
Im soeben auf Deutsch erschienenen dritten Band hat die Mannschaft bereits erste Bewährungsproben bestanden und sich auch untereinander zu einem gut funktionierenden Team zusammengerauft. Man frotzelt, nimmt den anderen auf den Arm, nennt sich beim Spitznamen, akzeptiert aber inzwischen die Eigenarten der anderen, die sich auch als Vorzüge erweisen können.
• Kommissar Luigi Palma ist der Chef. Unter seiner geschickten Leitung hat das gebrandmarkte »Gauner«-Kommissariat die Schmähbezeichnung als Herausforderung angenommen und seinen eigenen Stolz entwickelt. Ihrem schlechten Ruf trotzend, wollen sie gerade unter diesem Kampfnamen gute, wenn nicht sogar bessere Ermittlungsarbeit als ihre hochnäsigen Kollegen leisten:
• Giorgio Pisanelli (»Presidente«) ist der älteste Mitarbeiter und Palmas Stellvertreter. Er stammt selbst aus Pizzofalcone und kennt dort alles und jeden.
• Ottavia Calabrese (»Mama«) assistiert im Büro und ist eine Computer- und Internet-Koryphäe. Privat stößt sie mit ihrem geistig zurückgebliebenen, pflegebedürtigen siebenjährigen Sohn an die Grenzen der Belastbarkeit.
• Alex Di Nardo (»Calamity Jane«) muss mit 28 Jahren noch bei ihren autoritären Eltern wohnen, bis ein Mann sie heiratet. Um ein Leben nach ihrer wahren Neigung zu führen, müsste sie sich als Lesbe outen, und dazu fehlt ihr der Mut. Dafür geht sie im regelmäßigen Schießtraining aus sich heraus. Ihr Talent als Scharfschützin, »die eine Fliege aus 30 Metern Entfernung« erledigen kann, hat ihr den Spitznamen aus dem Wilden Westen eingebracht.
• Inspektor Giuseppe Lojacono (wegen seiner asiatischen Gesichtszüge »der Chinese« genannt) stammt aus Sizilien, wo man ihm Verbindungen zur Mafia nachsagte. Erste Lorbeeren und Anerkennung hat er sich (im gelungenen Erstling der Reihe) mit der Überführung des legendären »Krokodils« verdient.
• Francesco Romano (»Hulk«) ist ein stiernackiger, impulsiver und unkontrollierter Typ, der gefährlich ausrasten kann, wenn man ihm falsch kommt. Selbst seine Ex-Frau Giorgia hat er oft verprügelt, wenn er sich nicht beherrschen konnte.
• Polizeioberwachtmeister Marco Aragona (»Serpico«) residiert dauerhaft in einem Hotelzimmer, wie es seinem Selbstbild als zweiter Al Pacino geziemt. Mit Elvis-Tolle, blau verspiegelter Brille und solariumgebräunt hält sich der vitale Schönling mit dem lockeren Mundwerk für unwiderstehlich bei den Frauen. Für seine Kollegen ist er bestenfalls eine Karikatur des Stars, ansonsten nicht mehr als ein Wichtigtuer und »dummdreister Angeber«.
Für Neueinsteiger der Reihe stellt der Autor sein Team anfangs kurz vor. Doch dann hält sich das private Beziehungstrara mit seinen vielfältigen Problemkreisen wohltuend im Hintergrund – zugunsten der kriminalistischen Ermittlungsarbeit in drei Fällen.
Während eines Schulausflugs ist ein Zehnjähriger entführt worden. Nicht irgendeiner, sondern Edoardo, einziger Enkel eines stinkreichen Geschäftsmannes und einziges Familienmitglied, das er seiner Zuneigung für würdig befindet. Eine gigantische Lösegeldforderung folgt auf dem Fuß, aber für »Dodo« ist der Großvater bereit, sein letztes Hemd herzugeben. Früh ahnt der routinierte Krimileser, wer das Geld am nötigsten braucht ...
Während die Kollegen Aragona und Romano aus der zweiten Reihe diesen dramatischen Fall übernehmen, sind Top-Ermittler Lojacono und Kollegin Alex Di Nardo zu einem seltsamen Wohnungseinbruch gerufen worden. Da ist jemand in eine ungesicherte Wohnung hineinspaziert, derweil deren Besitzer auf Ischia weilten. Die Umstände sind befremdlich: die Alarmanlage ausgestellt, die Tür nicht aufgebrochen, in der Wohnung geordnetes Chaos. Von den einladenden Wertsachen – Silber, Schmuck, Gemälde – wurde nichts beschädigt oder gestohlen, nur der offen stehende Tresor leergeräumt. Alles halb so schlimm, scheint es, denn es sei ja »nichts von Belang« abhanden gekommen, wie der siebzigjährige Eigentümer Salvatore Parascandole mit dem »Gesichtsausdruck einer Bulldogge« versichert.
Den »Presidente« Giorgio Pisanelli treibt indessen eine Obsession um. Seine geliebte Frau Carmen ist nach einem schweren Krebsleiden von ihm gegangen, indem sie einen Cocktail aus Schmerz- und Schlaftabletten zu sich nahm. Doch trotz ihrer physischen Abwesenheit sind sich die beiden Ehegatten noch immer nah. Giorgio spricht mit der Verstorbenen, auch über die vielen anderen Selbstmorde im Viertel, denn der Polizist hegt Zweifel, dass sie alle aus freien Stücken begangen wurden. Er ist überzeugt, ein »Moribunden-Mörder« gehe um, der einsamen, kranken und depressiven Menschen einen vermeintlich guten Dienst erweisen möchte. Sein nächstes Opfer könnte eine arme Witwe sein, die allein in einem tristen Kellerloch haust. Um dem unbekannten Todesengel aus seiner Fantasie zuvorzukommen, beschattet Giorgio die alte Dame auf Schritt und Tritt.
In der guten Absicht, seinen Roman literarisch über die durchschnittliche Krimikost hinauszuheben, hat sich der Autor einiges einfallen lassen. Er bereitet die verschiedenen Handlungsfäden aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf, was noch mehr Abwechslung und zusätzliche Verrätselung bringt, aber den Überblick nicht gerade erleichtert. Neben der Sichtweise der Polizisten erleben wir die der Kriminellen, und besonders eindringlich wirkt die angstvolle Innenperspektive des jungen »Dodo«, der allein in einem dunklen Zimmer gefangen ist und sich fest an die kleine Plastikfigur seines Helden Batman klammert. Als poetisches Leitmotiv installiert der Autor düstere Gedanken über die Zeit, die üblicherweise als Wonnemonat gilt: »Hütet euch vor dem Mai! ... Denn der Mai in dieser Stadt weiß, wie er euch täuschen kann ... Er umschlingt euch mit seinen Tentakeln, und schon denkt ihr, alles sei in bester Ordnung, alles sei wie immer. Von wegen.« Nach meinem Geschmack ist all dies des Guten zuviel, denn der Fokus verliert sich, der Plot zerfleddert, die Lektüre kann anstrengend werden.
Auch bei uns findet Maurizio de Giovannis Krimireihe ihre treuen Anhänger, nicht zuletzt, weil die Wiedererkennung des zusammengewürfelten, markanten Teams mit lauter eigenartigen Charakteren, die, jeder auf seine Weise, das Herz am rechten Fleck haben, Spaß macht. Warten wir auf die nächsten Fälle für die »bastardi« von Pizzofalcone. Was die Spannung angeht, ist freilich noch immer genügend Luft nach oben.
Die sechs bisher veröffentlichten Bände über Inspektor Giuseppe Lojacono und seine Kolleginnen und Kollegen (alle Übersetzungen von Susanne Van Volxem):
• »Il metodo del coccodrillo« (2012)
– »Das Krokodil« (2014) [› Rezension]
• »I bastardi di Pizzofalcone« (2013)
– »Die Gauner von Pizzofalcone« (2015) [› Rezension]
• »Buio per i bastardi di Pizzofalcone« (2013)
– »Der dunkle Ritter« (2016) [› Rezension]
• »Gelo per i bastardi di Pizzofalcone« (2014)
• »Cuccioli per i bastardi di Pizzofalcone« (2015)
• »Pane per i bastardi di Pizzofalcone« (2016)
• außerdem ein Promotionsband für die Fernsehfilme mit Fotos von den Dreharbeiten, Porträts der Protagonisten usw.: »Vita quotidiana dei Bastardi di Pizzofalcone« (2017)