Die ewigen Toten
von Simon Beckett
In einem verfallenen Hospital, wo sich Fledermäuse und Junkies wohlfühlen, findet man Leichen und zugemauerte Krankenzimmer, von deren Existenz niemand weiß. Dr. David Hunter berichtet ausführlich, wie er den Toten ihre Geheimnisse Schicht für Schicht aus dem Leib schnippelt.
Doktor Hunters Forensipedia
St. Jude im Norden Londons war einmal ein Krankenhaus, doch das ist lange her. Dann wurde es geschlossen und dem Verfall preisgegeben. In den verlassenen, dunklen Gängen, Gemächern, Sälen, Treppenhäusern und Dachstühlen sind Flora und Fauna eingezogen. Fledermäuse haben Kolonien gegründet und flattern gespenstisch durch das Biotop besonderer Art. Obdachlose finden dort Unterschlupf, und Junkies verschaffen sich Zugang, um in dem weitläufigen Gemäuer ihren Süchten zu frönen.
Demnächst soll der in gewisser Weise idyllische Komplex abgerissen werden. Doch daraus wird vorläufig nichts werden. Nicht nur die Menschen, die darin untertauchen, und ihre Vertreter protestieren, auch engagierte Tierschützer treten auf den Plan, um die ideale Heimstätte der gefährdeten Nachtflieger zumindest noch für ein Weilchen zu bewahren. Obendrein entdecken sie bei ihren Erkundungsgängen eine in Plastik verpackte, dank der günstigen Atmosphäre des Dachbodens teilmumifizierte Leiche. Kein Zweifel: Dies ist der Schauplatz eines vor langer Zeit geschehenen Kapitalverbrechens, und der darf nicht so einfach plattgemacht werden.
Während die Polizei die menschlichen Bewohner vertreibt, den Tatort abriegelt und der Abrissunternehmer zum untätigen Abwarten verurteilt ist, setzt die Tätigkeit des in bereits fünf Vorgängerbänden bewährten Protagonisten ein. In Ermangelung irgend welcher Objekte, Indizien oder Augenzeugen kann nur der leblose Körper selber über Täter, Motiv, Tatwaffe und Tathergang Auskunft geben. Deswegen ist Dr. David Hunter, forensischer Anthropologe und Ich-Erzähler, Dreh- und Angelpunkt der Ermittlungen, und alle anderen – Kommissare, Spurensicherung, Kriminaltechniker, Rechtsmediziner – sind auf seine Erkenntnisse angewiesen.
Hunters akribische, streng wissenschaftliche Vorgehensweise verordnet dem Thriller zunächst einmal eine ganz genre-untypische Art Slow-Motion im Rückwärtsgang. Systematisch legt er Schicht für Schicht der Leiche von außen nach innen frei, analysiert jedes Bio-Bauteil, bestimmt Geschlecht, Alter, Größe, Todeszeitpunkt und rekonstruiert den Sterbeprozess. Weitere Aufschlüsse verschaffen ihm Röntgenaufnahmen, DNA-Analysen, Finger- und Kieferabdrücke, dazu die Arbeit von Schmeißfliegen, Würmern, Maden und Nagetieren. Auf der Grundlage all dieser uns sorgsam erläuterten Befunde starten die Vertreter der anderen Disziplinen ihre Arbeit und forschen im sozialen Umfeld des Opfers, beim Personal des ehemaligen Krankenhauses und in der Nachbarschaft. So krabbelt die Handlung peu à peu der Aufklärung entgegen, gelehrsam, geduldig und gemächlich.
Frisches Leben kommt erst auf, als weitere Tote gefunden werden, und das auch noch in zugemauerten, fensterlosen Räumen, die auf keinem Bauplan verzeichnet sind und von denen keiner zu wissen scheint, dass es sie jemals gab. Dabei stehen jetzt noch Krankenbetten darin.
Mehr Bewegung als die mysteriöse Station der eingemauerten Leichen bringt neues lebendes Personal auf die Seiten, so ein zweiter Forensiker, aus dem privaten Sektor hinzugezogen, und ein ehemaliger Pfleger des St.-Jude-Hospitals mit kleinkrimineller Vergangenheit und Mitleid erregender Krankheitsgeschichte. Als der bedauernswerte Mann, der unter ärmlichsten Bedingungen von seinem verbitterten alten Mütterlein gepflegt wird, in Verdacht gerät und verhaftet wird, schlägt die Stunde eines rührigen Natur- und Sozialaktivisten: Umgehend bietet ihm ein forscher Anwalt, der sich schon gegen den Abriss des Krankenhauses stark macht, unentgeltliche Rechtshilfe als Verteidiger an. Ein Menschenfreund?
Die Ereignisse überschlagen sich geradezu, als eine Figur nach der anderen zum Opfer wird. Eine verliert ihr Auskommen (der Abrissunternehmer), eine andere ein Bein, eine weitere ihr Leben. Zufälle oder kriminelles System?
Wenn nach fast fünfhundert Seiten alle Leichen seziert und alle Rätsel gelöst sind, bleiben immer noch zwei Fragen offen: Was an diesem Buch legitimiert die Genrebezeichnung »Thriller«? Und was macht Simon Becketts Reihe um Dr. David Hunter eigentlich so erfolgreich?
Spannungsspitzen sind in »The Scent of Death« (Karen Witthuhn und Sabine Längsfeld haben den Band übersetzt) nämlich ausgesprochen scheue Rehe. Die Ereignisse kriechen mit den ausführlich kommentierten Arbeitsgängen des Protagonisten im Schneckentempo voran. Das hat im Prinzip den spröden Reiz einer Anatomie-Vorlesung, würde der Autor nicht auf den Effekt der Sinneseindrücke setzen, die die für Laien makabre Tätigkeit begleiten und dem sensiblen Leser manchen Schauder den Rücken hinunterjagen, wenn nicht seinen Magen umdrehen: der ungewohnte Anblick des offenliegenden Körperinneren, die üblen Ausdünstungen der Weichteile, das Knacken der Gelenke, das Flutschen beim Abziehen der Haut, das an eine Brathendl-Mahlzeit erinnernde Auslösen der Knochen.
Für Grusel können die Beschreibungen der baulichen Zustände des verfallenen Krankenhauses sorgen, aber die sprachliche Gestaltung ist keineswegs so fulminant, ungewöhnlich, originell oder zupackend, dass man vom Weiterlesen nicht ablassen mag. Diese wünschenswerte Wirkung wirklicher Thriller kann auch die Handlung nicht entfalten – eine Mischung aus den Solo-Performances des Spezialisten Hunter, seiner Kooperation mit den Ermittlern, dem üblichen Kompetenzgerangel und persönlichen Befindlichkeiten der Beteiligten, die die Geduld manchen Lesers strapazieren können. Immerhin herrscht diesmal Flaute im Privatleben des Protagonisten selbst, da seine neue Lebensabschnittsgefährtin Rachel derzeit auf Forschungsreise in der Ägäis dümpelt. Dafür suchen ihn die Dämonen der Vergangenheit wieder heim – von Parfümspuren ausgelöste Panikattacken, Albträume, die ihm den Nachtschlaf rauben: Erinnerungen an eine psychisch gestörte Stalkerin, die wieder nicht locker lässt, bis sie ganz in seine Nähe vorgedrungen ist.
Erst auf den letzten hundert Seiten rücken die Ausschläge des Voltmeters etwas dichter zusammen. Dann allerdings geht es zur Sache mit Einkerkerung, fürchterlichen Qualen aus dem Elektroschocker und akuter Lebensgefahr, bis die Spannungskurve ihren Höhepunkt erklimmt und endlich alles wieder gut wird.