Rezension zu »Die Legende unserer Väter« von Sorj Chalandon

Die Legende unserer Väter

von


Belletristik · dtv · · Taschenbuch · 196 S. · ISBN 9783423248990
Sprache: de · Herkunft: fr

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Délivrance

Rezension vom 13.02.2012 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Lupuline will ihrem Vater zu seinem 84. Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk machen.

Als sie noch ein kleines Mädchen von 12 Jahren war, pflegte er sie abends vorm Einschlafen mit ungewöhnlichen Geschichten zu faszinieren. Er erzählte ihr Episoden aus den Kriegsjahren – wie er als Kommandant der französischen Widerstandsbewegung maßgeblich an Sabotageakten gegen die deutschen Besatzer beteiligt gewesen war, wie er zeitweise einen abgestürzten englischen Piloten gepflegt und ihm zur Flucht verholfen hatte. Aber bis zum heutigen Tag belastet den Vater, dass ein ganzes Dorf tödliche Vergeltung für die Erschießung eines deutschen Soldaten hinnehmen musste. Lupuline ist stolz auf das Widerständler-Heldentum und wünscht sich, dass deren Erlebnisse nicht verloren gehen. Und genau zu diesem Zweck hat sie einen Profi engagiert, dessen Annonce sie in der Zeitung gelesen hatte: Marcel Frémaux, ein ehemaliger Journalist, hört sich die persönlichen Erzählungen seiner Auftraggeber an, rekonstruiert mit ihnen die Vergangenheit und verfasst auf dieser Basis ihre Biografien.

Lupuline erläutert ihm, wie sie sich die Gestaltung des Buches vorstellt; der Titel könnte "Lille-Délivrance" lauten •"Befreiung ..."). Einmal wöchentlich soll Frémaux dem Vater eine Stunde lang zuhören, ohne ihn mit Gegenfragen aus dem Konzept zu bringen.

Frémaux hatte Lupuline gleich wiedererkannt. Als seine Familie zwanzig Jahre zuvor seinen Vater Pierre zu Grabe trug, stand sie abseits, Hand in Hand mit ihrem Vater. Sie gingen bald wieder weg, ohne zu kondolieren. Schon damals trug sie rote Schuhe.

Beim ersten Treffen stellt sich der massive alte Mann an Krücken seinem Gegenüber als Tescelin Beuzaboc vor; dies war in den alten Zeiten sein Codename. Er ist ein guter Erzähler. Beim Zuhören vertieft sich Frémaux in seine Gesichtszüge, die seine Stimmungen deutlich widerspiegeln. Nach einigen Wochen aber beschleichen Frémaux ungute Gefühle. Auf eigenartige Weise fehlt den Schilderungen Hintergrund und Tiefe: Wer waren die Mitglieder der Gruppe, wer gab die Befehle, wer besorgte den Sprengstoff? Frémaux wagt es kaum zu denken: Sitzt hier jemand vor ihm, der eine Vergangenheit lebt, die gar nicht seine war?

In Frémaux brodeln umso heftigere Gefühle – Wut, Hass, Rachegelüste -, als sein eigener Vater Pierre tatsächlich in der Résistance agiert und unter dem Decknamen Brumaire der Gruppe Vengeance angehört hatte. Wie soll er sich nun weiter verhalten? Soll er seinen Auftrag zu Ende führen? Soll er Lupuline aus ihren Träumen holen, sie mit der Lebenslüge ihres Vaters konfrontieren?

Sorj Chalandons Roman "Die Legenden unserer Väter" ist ein aufwühlender Roman. Mit der Résistance lässt er ein wichtiges Kapitel französischer Geschichte aufleben, das das positive Selbstverständnis vieler Franzosen bis heute stützt – und kratzt daran.

Dazu konstruiert Chalandon aussagekräftige, reizvoll parallele Konstellationen und gestaltet sie dramaturgisch effektvoll wie in einem Vier-Personen-Kammerspiel: Zwei Väter •Beuzaboc und Brumaire) präsentieren ihren Kindern •Lupuline und Frémaux) ihre Erinnerungen •erfundene und wahre). Während die eine das Erzählte aufsaugt, sich das •fiktive) Bild stolz zu eigen macht, lehnt der andere die brutale Realität ab. Der kleine Marcel wollte gar nicht erst hören, was sein Vater dem älteren Bruder leise ins Ohr flüsterte über Deportationen und das Grauen in Konzentrationslagern. Um die Angst von sich fernzuhalten, paradierte der Junge lieber trompetend mit seinen Händen vorm Mund durchs Zimmer.

Die Gegenwart konfrontiert die gegensätzlichen Positionen miteinander. Schon als sich der Sarg des Vaters in die Erde senkte, wurde dem Sohn bewusst, dass er ihn ohne jegliche Erinnerung hatte gehen lassen: "Ich habe es versäumt, ihn zu bestürmen, ihn zu befragen ... Ich habe als Sohn versagt." (S. 17)

Nun trifft es Frémaux mit blankem Zynismus, dass ihm eine menschliche Lüge gegenüber sitzt, jemand, dessen geklaute Vita voller erfundener Tapferkeit das Andenken des eigenen Vaters besudelt. Denn Beuzaboc hatte nie gekämpft; selbst seine •echte) Beinverletzung stammt keineswegs von einem Bombenangriff der Engländer. Frémaux' Vater – der wahre Freiheitskämpfer – war dagegen geschädigt, traumatisiert und desillusioniert zurückgekehrt wie viele andere. Doch für seine Vergangenheit interessierte sich niemand mehr, ihm wurden keine Ehren zuteil; die Menschen wollten vergessen. So wurde er ein Mann des Schweigens und starb schließlich mit 66 Jahren, an Krebs und an seiner verwundeten Seele.

Sorj Chalandon, 1952 in Tunis geboren, berichtete von 1974 bis 2007 als Journalist aus Libanon, Iran, Irak, Somalia und Afghanistan. Für seine Reportagen über Nordirland und den Klaus-Barbie-Prozess und für seine bisher fünf Romane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen; 2011 war er sowohl für den Grand Prix du roman de l'Académie francaise als auch für den Prix Goncourt nominiert. "La légende de nos pères" •2009) erscheint jetzt als sein erstes Buch in deutscher Übersetzung bei dtv premium.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner ganz privaten aktuellen Lesetipps aufgenommen.


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