Rezension zu »Melody« von Martin Suter

Melody

von


Ein todgeweihter alter Herr erzählt seine Lebensgeschichte, auf dass sein Adlatus sie zu einer strahlenden Biographie gestalte. Doch in seinem melancholischen Inneren hängt der bekannte Erfolgsmensch der Liebe zu einer Frau nach, die er in jungen Jahren auf unerklärliche Weise verlor.
Belletristik · Diogenes · · 336 S. · ISBN 9783257072341
Sprache: de · Herkunft: ch

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Ein geheimnisvolles Verschwinden

Rezension vom 04.08.2023 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Alles spricht dafür, dass Dr. Peter Stotz ungeachtet seiner 84 Lebensjahre ein glücklicher Mann sein muss. Als Geschäftsmann, Unternehmensberater und Natio­nalrat hatte er große Erfolge, schef­felte Geld und gewann Einfluss, als Königs­macher und Kunst­mäzen erwarb er sich einen guten Ruf, und nun kann er einen sorglosen Lebens­abend genießen. In seiner Villa nebst gut gefülltem Wein­keller und einer Garage voller Nobel­karossen wird er von der Haus­hälterin Mariella und dem Faktotum Roberto umsorgt. (Die Details des glamou­rösen Milieus der Schweizer upper-class sind uns aus früheren Suter-Romanen hinrei­chend vertraut.)

Allerdings verrinnt auch die Zeit eines Dr. Peter Stotz ihrem unauf­halt­samen Ende entgegen. Viel­leicht ein Jahr bleibe ihm noch, hat sein Arzt diagnos­tiziert. Die kostbaren Monate will er nutzen, um seinen Nachlass zu ordnen, und dazu benötigt er einen qualifi­zierten Helfer. Die Chiffre-Anzeige in der Zeitung spricht von einem vertrauens­würdigen, gebil­deten, jüngeren Mann mit juristi­schen Vor­kennt­nissen und bietet eine Vollzeit­beschäf­tigung bei fairer Entloh­nung.

Suters dreiteiliger Roman beginnt mit Tom Elmer, dem Mann, der sich von der Annonce ange­sprochen fühlt. Er ist um die dreißig, hat Jura-Ab­schlüsse aus der Schweiz und aus London in der Tasche und wollte ihnen in New York einen weiteren hinzu­fügen. Doch zu seinem Unglück entfiel die groß­zügige Unter­stützung durch die Eltern unter tragi­schen Umständen. Jetzt gilt es, sich als Arbeits­loser bei Vor­stellungs­gesprä­chen zu bewähren, was bislang noch nicht recht gelingen wollte.

So wartet er vor dem schmiede­eisernen Tor der Villa am Zürich­berg auf Einlass. Frisch vergol­dete Lettern mahnen vom Giebel der ansonsten verwit­terten Fassade: »Tempus fugit, amor manet«. Am Ende des Romans wissen wir, mit welch bitterer Ironie dieser Sinn­spruch das Leben des Bewohners über­schattet hat: »Die Zeit vergeht, die Liebe bleibt«.

Am Kaminfeuer des Salons ist Dr. Stotz tief im Leder­sessel versunken, und der einst elegante Maßanzug umhüllt viel zu weit seinen aus­gemer­gelten Körper. Doch seine Würde ist unge­brochen, als er dem Bewerber die Arbeits­platz­beschrei­bung vorträgt. Es gehe darum, »der Nachwelt ein be­stimm­tes Bild von mir zu ver­mitteln«. Dazu solle der Kandidat unzählige Kartons sichten, geeig­netes Material von un­brauch­barem trennen, das eine shreddern und aus dem anderen eine Vita von Glanz und Gloria erstellen – wobei die Wahrheit durchaus aufge­hübscht werden dürfe. Der unkünd­bare Jahres­vertrag umfasst neben groß­zügigem Salär auch Kost und Logis. Tom unter­zeichnet und zieht in die Gäste­wohnung ein.

Nach des Tages Arbeit sitzen die beiden Männer gern zu einer gepfleg­ten Abend­konver­sation bei edlen Weinen und kostbaren Armagnacs beisammen. Dabei erfährt Tom nach und nach, was es mit der wunder­schönen Frau auf sich hat, deren lebens­große Ölpor­traits die Wände zieren. Sie war die unsterb­liche Liebe des Dr. Stotz, der sie nach kurzem Glück verlor und die dennoch sein ganzes weiteres Leben bestimmte und ihn – unge­achtet seines äußerlich glanz­vollen Auf­tretens – zu einem tragisch leidenden Melan­choli­ker machte.

Etwa vier Jahrzehnte zuvor hatte Peter die zwanzig­jährige Buch­händ­lerin Tarana (dt. »Melodie«) kennen­gelernt und sich augen­blick­lich in die dunkel­häutige Schönheit verliebt. Obwohl ihre Familie marokka­nischen Ursprungs bereits eine Ver­bindung mit einem jungen Muslim arran­giert hatte und sich der Beziehung zu dem doppelt so alten Schweizer wider­setzte, zog die junge Frau in Peters Villa ein, und die beiden planten eine große Hoch­zeits­feier. Doch als das hand­gefer­tigte Braut­kleid aus franzö­sischer Haute Couture geliefert wurde, war »Melody« spurlos ver­schwun­den.

Die skandalträchtige, mysteriöse Geschichte von der abhanden gekom­menen Braut eroberte die feine Zürcher Gesell­schaft im Fluge und haftete wie ein Makel an dem promi­nenten Dr. Stotz. Mehr als am Tratsch litt er an ge­broche­nem Herzen und konnte den Verlust nie weg­stecken. Uner­müdlich analy­sierte er jedes Detail der Umstände des Ver­schwin­dens, recher­chierte, reiste in viele Länder: alles vergebens.

Wie wird Tom mit diesen Informa­tionen verfahren? Schließ­lich will der Todge­weihte, dass er eine gute Story daraus macht. Ist das Erzählte reine Fiktion oder bereits teilweise zurecht­gebogen? Anderer­seits wirkt das große Haus, in dem die Ange­betete von allen Wänden auf den Betrach­ter her­nieder­blickt, auf ihn wie ein wahrer Schrein der ver­lorenen Liebe.

Nach Dr. Stotz’ Ableben bleibt Tom am Ball und beginnt (im zweiten Teil des Romans) eigen­ständige Nach­for­schun­gen. In der Vergan­genheit der Liebenden findet er immer mys­teriö­sere und er­schre­cken­dere Dinge heraus – und nichts davon ist für uns vorher­sehbar! Egal wie stark unsere Verblüf­fung über die raffi­nierten Wendungen des Gesche­hens, wie stark unsere Neugier und Anspan­nung, was noch alles kommen mag – der bekannte Sutersche Erzähl­stil plät­schert ruhig und gediegen dahin, die For­mulierun­gen sind konven­tionell, aber elegant, auf den Punkt präzise und diffe­renziert. Einfach meister­lich.

So ist auch »der neue Suter« rundum empfeh­lenswert. Die unge­wöhn­liche Mischung atmosphä­rischer Stim­mungen ver­schaffen großen Lese­genuss: Die mondäne Welt des Protago­nisten, den größte Erfolge und bittere Verluste geprägt haben, der kalt ent­schei­den und unsterb­lich lieben kann, dessen Wesen in äußeren Glanz und innere Melan­cholie gespalten ist, dem das Bewusst­sein der Todes­nähe Stärke und Ent­schluss­kraft verleiht, das sind die Elemente einer zarten Melodie in Moll, die den Grundton des Romans ausmacht.

Als Bonus lässt uns Martin Suter an den kulina­rischen Genüssen seiner Figuren teilhaben. Mariella, die sardische Köchin, verwöhnt ihren Arbeit­geber mit den köst­lichs­ten Gerichten aus ihrer Heimat, wie zum Beispiel Coniglio alla sarda. Für alle, die nach­kochen möchten, verweist der Autor auf die Rezepte im Kochbuch »La Mia Cucina« von Patrizia Fontana.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblings­bücher im Sommer 2023 aufgenommen.


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