Jäger im Blutrausch
Tania Carver führt den Leser mit ihrem Psychothriller in einen wahren Albtraum. Sie spürt der Frage nach, was aus Kindern werden kann, die in ärmsten sozialen Verhältnissen aufwachsen. Wenn sie dann auch noch in Einsamkeit weitab der Zivilisation leben, kann man sich vorstellen, dass das geschieht, was uns die Autorin in ihrem Atem raubenden, den Leser im Innersten aufwühlenden Roman beschreibt. Körperlicher und sexueller Missbrauch in der Familie hinterlässt seelisch verletzte, traumatisierte Kinder. Sie haben keine Chance, eine normale menschliche Entwicklung zu durchlaufen. Sie sind ihren heftigen, teilweise gegensätzlichen Gefühlen – Hass auf den Gewalttäter, gleichzeitig Angst vor seinem perversen Liebesentzug, also auch wieder zwanghafte Hinwendung zu ihm – hilflos ausgeliefert. Sie finden weder Unterstützung noch ein Korrektiv in der Außenwelt. Im Erwachsenenalter können ungehemmte Brutalität, rasender Wahnsinn, unkontrollierte animalische Instinkte zu erschreckendem kriminellen Fehlverhalten führen ... Tania Carver spielt das schlimmstmögliche Szenario von Persönlichkeitsstörungen durch.
Unvermittelt versetzt sie den Leser mitten in den Kriminalfall. Die Idylle im beschaulichen Colchester ist zerstört. Ein Psychopath hat zwei Frauen getötet. Nachdem er der hochschwangeren Claire Fielding eine Droge verpasst hatte, schlitzte er ihr, eine Szene wie im Schlachthaus hinterlassend, bei lebendigem Leib den Bauch auf.
Inspector Phil Brennan und sein Team machen sich an die Aufklärung. Keiner von ihnen – nicht die Spurensicherung, nicht der Gerichtsmediziner – haben je so ein Massaker gesehen. Überall riecht es nach qualvollem Tod. Sie kämpfen gegen die Übelkeit an.
Von dem Täter fehlt jede Spur. Nur eins ist sicher: Er hat das schon lebensfähige Ungeborene entführt.
Es werden noch weitere Opfer folgen, denn der Täter arbeitet eine Liste ab. Nach welchen Kriterien wählt er seine Opfer? Was macht er mit den kleinen Wesen? Was geht in ihm vor?
Durch Kursivdruck abgesetzt, enthüllt die Autorin die bizarre Innenwelt des Täters und seiner Motive. Dadurch gibt sie uns Lesern das Gefühl, den Ermittlern weit voraus zu sein. Etwas herablassend-bedauernd beobachten wir sie von unserer Warte – der des Täters! – aus, wie sie einen brutalen Schrotthändler, der sich gern im Prostituiertenmilieu tummelt, verhaften. Das kann ja nur der Falsche sein ...
Alle Orte, Geschehnisse und Protagonisten (darunter kaum jemand ohne seelische Beschädigungen) beschreibt die Autorin mit unmissverständlicher Sprache. Die Gefühle des Mörders, der seine animalische Lust befriedigt, erregen kaum zu übertreffenden Horror. Welch grausame Vergangenheit und welch alltäglicher Wahnsinn in dieser Person steckt – und in gleichem Ausmaß in einer weiteren, die mit dem Mörder zusammen agiert -, ist dem normalen Verstand unvorstellbar und nicht begreiflich.
Den Handlungsgang hat die disziplinierte Autorin schnörkellos und stringent durchgezogen; die Spannungslatte legt sie von Anfang an sehr hoch, und – man fasst es nicht! – nie lässt sie locker! Nie gibt sie dem Leser einen Augenblick der Ruhe; immer wieder legt sie noch einen Schlag drauf. Voll konzentriert, getrieben, überfliegt man die Sätze und fiebert dem Ende entgegen.
Dieses Buch ist ein Hammer. Ein Superstart, den Tania Carver mit ihrem Debüt hinlegt!
Postskriptum:
1. Was macht dieses Buch – von den erzählerischen Qualitäten einmal abgesehen – eigentlich attraktiver als andere (Psycho-) Thriller? Das ist nicht zuletzt die Präsentation noch weiter getriebener Brutalitäten und Perversionen. Ist das wünschenswert, dass so etwas öffentlich verbreitet wird? Werden da nicht Tabus gebrochen, die besser Tabus bleiben sollten? Blicke durch Türen ermöglicht, die fest verriegelt bleiben müssen?
2. Und wie ist es möglich, dass wir Leser so etwas mit einem – im weitesten Sinne: – vergnüglichen Schauder lesen? Haben wir Grund, vor uns zu erschrecken? Oder belegt diese Tatsache vielmehr, was ich unter 1. zu bedenken gab: dass wir durch solche Lektüre immer weiter "verrohen"?