Die Wahnsinnige
von Alexa Hennig von Lange
Moderne (feministische) Interpretation der Königin Johanna I. von Kastilien als Opfer ihrer übermächtigen Eltern (los Reyes Católicos), ihres Ehemannes (Philipp der Schöne), ihres Sohnes (Karl V.) und des (durchweg männlichen) Machtapparates des spanischen Weltreichs
Arme Königin
Königskinder sind noch nie zu beneiden gewesen. Aber mit Juana, die 1479 als Prinzessin geboren wurde, kann man nur Mitleid haben. Das Mädchen hatte Eltern von so herausragender weltpolitischer Bedeutung, und so viele widerstreitende Interessengruppen zerrten und schubsten von allen Seiten, dass ihr wenig Spielraum für ein Eigenleben blieb. Als »wahnsinnig« gebrandmarkt, musste sie 46 ihrer 76 Lebensjahre in Gefangenschaft zubringen, drangsaliert und gefoltert.
Die Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange erzählt das Leben dieser unglücklichen Königin Johanna I. von Kastilien aus heutiger Sicht und relativiert dabei deren Beinamen »la loca« (»die Wahnsinnige«, präziser »die Närrische«). Sie porträtiert sie als eigenwillige, emotionale, impulsive und wenig anpassungsbereite Frau und Regentin, deren Lebensumfeld ihr derart zusetzt, dass sich Verzweiflung und Wut Bahn brechen. Wie im Europa jener Zeit nicht anders zu erwarten, geben einflussreiche Männer den Ton an, getrieben von starken persönlichen Machtinteressen und/oder denen ihrer Institutionen. Johannas auffälliges Wesen (»Ich bade grundsätzlich nicht. Ich beichte nicht. Ich esse nicht. Ich gehorche nicht. Und ich bin keine Mutter.«) macht es ihnen leicht, sie öffentlich zu diskreditieren und aus dem Weg zu räumen. Die feministische Perspektive liegt der Autorin neben dem persönlichen Schicksal ihrer Titelfigur am Herzen.
Johannas Eltern waren die bis heute gerühmten »Katholischen Könige« Isabella I. von Kastilien (1451-1504) und König Ferdinand II. von Aragón (1452-1516). Sie führten ihre beiden Reiche gemeinsam und legten damit das Fundament für das spätere Königreich Spanien. Sie förderten die Expeditionen eines Kolumbus und stellten damit die Weichen für das gewaltige Kolonialreich mit unermesslichen Reichtümern, über das ihr Enkel Karl V. herrschen würde. Die streng religiösen Herrscher vertrieben die Mauren nach Jahrhunderten von der iberischen Halbinsel (»Reconquista«), verfolgten unnachgiebig Juden und Muslime in ihrem Reich und führten die Inquisition ein. Für ihren Glaubenseifer verlieh ihnen der Papst den Ehrentitel »los Reyes Católicos«.
Es ist verständlich, dass sich das weitsichtige Monarchenpaar für die Fortführung seiner Politik eine fähige Nachfolge sichern will. Als drittes ihrer Kinder wird 1479 Johanna geboren und nach dem frühzeitigen Tod der Geschwister zur Thronfolgerin. Alexa Hennig von Lange schildert, wie das Mädchen unter dem Kuratell ihrer machtbesessenen Mutter Isabella, »der Gläubigsten aller Gläubigen«, zur Herrscherin geformt werden soll, jedoch Widerstand leistet. Johanna verspürt keinerlei Wunsch, jemals zu regieren, lehnt höfisches Zeremoniell ab, teilt den fanatischen Glauben ihrer Mutter nicht (»eine zukünftige Monarchin, die nicht beten und nicht beichten wollte und nur selten im Alten Testament las«) und hasst die von ihr inszenierten Schauprozesse, um Ketzer hinrichten zu lassen. Weder mit Strenge noch mit Züchtigungen ist der widerborstigen Tochter beizukommen.
Ein erfolgreicher Schachzug in der royalen Machtpolitik ist im Jahre 1496 die Verheiratung der Siebzehnjährigen mit einem Habsburger, dem ein Jahr älteren Sohn des römisch-deutschen Königs und späteren Kaisers Maximilian I.. Zwischen Johanna und Philipp, seit 1482 Herzog von Burgund und als »der Schöne« charakterisiert, entbrennt eine leidenschaftliche Liebe. Aber sie hält Philipp nicht von seinen Eskapaden ab, was bei Johanna Nervenzusammenbrüche, rasende Eifersucht, Enttäuschung und Opposition auslöst. Weder Philipp noch ihre kaltherzige Mutter haben dafür das geringste Verständnis. Vielmehr sperrt Isabella sie ein, so dass sie ihrem Mann nicht in sein Herzogtum Burgund nachreisen kann. Während sich Johanna ihres vollkommenen Ausgeliefertseins bewusst wird, spricht ihre Mutter ihr jegliche Fähigkeit zu herrschen ab. Der einflussreiche Bischof Juan Rodríguez de Fonseca bestätigt den mütterlichen Eindruck ihrer Unzulänglichkeit und führt den Beweis dazu: Johanna sei »ihrem Mann verfallen«, »eifersüchtig«, »melancholisch«, »uneinsichtig«, »nicht steuerbar«, »geisteskrank«, »wahnsinnig«.
Als Isabella die Katholische 1504 unerwartet früh stirbt, tritt Johanna die testamentarisch festgelegte Regentschaft an, und ihr schöner Ehemann wird nach dem elterlichen Vorbild nominell ihr Mitkönig. Doch nun entwickelt sich eine erbitterte Feindschaft zwischen den Männern an der Seite der angeschlagenen Königin, die bereits als »la loca« bekannt ist. Philipp und ihr Vater Ferdinand II. kämpfen und intrigieren um die Vorherrschaft, bis Philipp schon 1506 mit 28 Jahren stirbt. Für kurze Zeit will Johanna eigenständig herrschen, kann ihre politischen Vorstellungen aber nicht gegen Ferdinand und die Kirchenfürsten durchsetzen. Zwar bleibt sie bis zu ihrem Tod (1555) formell als Königin anerkannt, doch ihr Vater hat das Machtvakuum für sich ausgenutzt und führt fortan die Regierungsgeschäfte. 1509 lässt er seine Tochter in ein Klarissenkloster bringen, das sie nie mehr verlassen wird.
Aus Johannas Ehe gingen sechs Kinder hervor, die ihrerseits allesamt bedeutende europäische Machtfiguren wurden, darunter Karl V. (Carlos) und Ferdinand I. als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und Begründer der spanischen bzw. österreichischen Linie des Hauses Habsburg. Nach Ferdinands Tod (1516) machte Johanna den sechzehnjährigen Carlos zum Mitregenten in Kastilien, León und Aragón, verteidigte aber ihren Vorrang als Königin, etwa indem sie alle Dekrete und Verträge an erster Stelle unterzeichnete. Dennoch blieb sie im Grunde machtlos, im Kloster eingekerkert (zusammen mit ihrer Tochter Katharina) und jeder Willkür ausgeliefert. Sie wurde »gefoltert, um aus mir den Wahnsinn hervorzulocken, der angeblich der Grund für meine Gefangenschaft ist. […] Doch ich bin ruhig geblieben. […] Meine Ruhe macht ihnen Angst.«
Alexa Hennig von Langes Roman setzt im Jahr 1503 ein. Aus zarter Distanz erzählt sie in der 3. Person und führt uns in berührender Weise nahe an das komplexe Wesen ihrer Titelfigur. Deren oftmals ungewöhnliches, störrisches Verhalten wird weder verteidigt noch vorgeführt, aber eben nicht einfach als Wahnsinn abgestempelt, wie es dem patriarchalisch geprägten Umfeld opportun war. Vielmehr akzentuiert die Autorin Johanna als kluge, vorausschauende Frau mit Weitblick, die moderne Ansichten vertritt. Willensstark, selbstbewusst, kämpferisch und freiheitsliebend, gleichzeitig sensibel und emotional, wendet sie sich furchtlos gegen den rigiden Regierungsstil ihrer Mutter mit dem verhassten Zwang zu Unterdrückung und Tötung vieler Untertanen . Stattdessen möchte sie als Herrscherin ihren Traum einer freieren und friedlicheren Welt verwirklichen und »ihre Beziehung zu Philipp und ihre Zukunft als gleichberechtigte Ehefrau neu gestalten«, und all das »ohne Kompromisse«. Als sie ihre Machtlosigkeit erkennen muss, schlagen ihre Gefühle um, und ebenso kompromisslos entschließt sie sich nun, den Ehebrecher zu vernichten, seine Politik zu revidieren, ja ihn zu töten, und sehnt sogar den eigenen Tod herbei, um endlich frei zu werden.
Dem Roman ist ein (fiktiver) Brief der Königin an ihre achtzehnjährige Tochter Katharinavorangestellt, in dem sie ihr Erkenntnisse ans Herz legt, die sie gern selbst schon in deren jugendlichem Alter gewusst hätte. Sie ermahnt sie (die neue Königin von Portugal), in sich »den Frieden und die Freiheit zu finden, wenn die Welt dabei ist, sich selbst zu zerstören. […] Die Menschen bekämpfen und ermorden sich in ihrem Streben nach Macht, Reichtum und Bedeutung«, doch dabei sei noch niemand glücklich geworden. »Mein Widerstand gegen ihren Wahnsinn hat mich hierhergebracht. Du kannst die Welt nicht verändern, aber Dich.«
Dies ist zwar ein historischer Roman, doch er historisiert nicht. Er schlägt mit seiner modernen Sprache und Perspektive eine Brücke in das frühe sechzehnte Jahrhundert und erzählt Geschichte als lebendiges, wendungsreiches Leben einer herausragenden Frauenpersönlichkeit. Aus den inneren Höhen, die sie durchlebt, zieht sie Selbstsicherheit, doch die Realität zwingt sie danach rasch zu der Erkenntnis, dass sie Illusionen erlegen und lediglich Spielball in einer Welt der Männer ist: Der eigene Vater, der eigene Ehemann, bestechliche Adlige, machthungrige Bischöfe ziehen darin die Fäden. Verraten, hintergangen, gedemütigt, eingesperrt und gequält, hat Johanna keine Kraft, sich zu widersetzen. War sie wirklich »wahnsinnig«, wie sie vor ihren Untertanen hingestellt wurde? Eine einfache Antwort kann die Autorin ebenso wenig geben wie zahllose Historiker, die seit jeher die Quellen daraufhin studiert haben.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2020/21 aufgenommen.