Rezension zu »Das letzte Bild« von Anja Jonuleit

Das letzte Bild

von


Zwei Frauen forschen nach der Identität einer Toten und ihrer Beziehung zu ihr. Um die Geheimnisse der Isdal-Leiche, die bis heute nicht vollständig aufgeklärt werden konnten, erzählt Anja Jonuleit eine komplexe, faszinierende Geschichte, die auf den bekannten Fakten aufbaut und sie um eine plausible fiktionale Lösung bereichert.
Belletristik · dtv · · 480 S. · ISBN 9783423282819
Sprache: de · Herkunft: de

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Geheimnisse in Norwegen

Rezension vom 22.11.2021 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ende November 1970 fanden Wanderer im norwegi­schen Isdal (»Eistal«) eine halb ver­brannte Frauen­leiche. Erst 2016 konnten einige Umstände des Falles erhellt werden, als die Polizei den cold case mit modern­sten Methoden wie DNA- und Zahnana­lysen neu aufrollte. Die Frau war zum Zeitpunkt ihres Todes um die vierzig Jahre alt und stammte wohl aus Deutsch­land. Zwei Koffer in der Gepäck­aufbe­wahrungs­stelle des Bahnhofs Bergen konnten ihr zuge­ordnet werden und belegten, dass sie mit gefälsch­ten Pässen und diversen Namen durch ganz Europa gereist war. Alles, was Rück­verfol­gungen ermög­licht hätte, war von den Gegen­ständen am Fundort und in den Koffern sorg­fältig entfernt worden. Die Spekula­tionen blühten interna­tional auf: War die Tote eine Spionin? Hat sie sich selbst getötet, oder wurde sie ermordet? Keine dieser Fragen konnte bis heute beant­wortet noch die wahre Identität der Frau geklärt werden.

Rein zufällig stieß die deutsche Autorin Anja Jonuleit auf einen Podcast der BBC über diesen myste­riösen Kriminal­fall. Die Hinweise auf eine Verbin­dung nach Deutsch­land ließen ihr keine Ruhe, und die faszinie­rende Story bot sich mit all ihren Ungereimt­heiten an, zu einem spannen­den teils histori­schen, teils fiktio­nalen Plot verar­beitet zu werden. Dazu bedurfte es freilich zunächst inten­siver Forschungs­arbeiten (im Nachwort ausführ­lichst beschrie­ben).

Als erzählerische Zwischen­instanzen führt Jonuleit mit Margue­rite und der Schrift­stellerin Eva Berghoff zwei deutsche Frauen ein, die ihrer­seits Recher­chen anstellen, aber auf verschie­denen Zeitebe­nen und aus unter­schied­lichen Motiven.

Marguerite wächst mit Mutter und Schwester auf, ehe sie als Sechs­jährige beide in den Wirren des Endsta­diums des Welt­kriegs für immer verliert. Der Gedanke an die beiden wird sie jedoch niemals loslassen. Nach einer trost­losen Kindheit und Jugend im Waisen­haus und bei Pflege­eltern begibt sich die junge Frau nach Kriegs­ende auf die Suche nach ihren engsten Verwand­ten, die viel­leicht überlebt haben. Sie erfährt, dass ihre Mutter als Ärztin für die Nazis gearbei­tet hatte, und zwar haupt­sächlich in den norwegi­schen Lebens­born-Heimen. Sie reist zu den mittler­weile geschlos­senen Anstalten und verheim­licht dort, wer sie ist, um Auskünfte von Zeugen und Zugang zu Text- und Bilddoku­menten zu erhalten. Ein Foto – »Das letzte Bild« – wird ihr zum Verhäng­nis.

Eva Berghoff springt im Januar 2018 eine reißeri­sche »Bild«-Schlag­zeile ins Auge: »War die unbe­kannte Tote eine Deutsche?« Der Artikel berichtet von den neuen Erkennt­nissen zum Isdal-Fall und präsen­tiert dazu ein Phantom­bild, wie die Frau zuletzt ausge­sehen haben könnte. Eva ist elektri­siert: Das Porträt hat verblüf­fende Ähnlich­keit mit ihrer Mutter, ja sogar mit ihr selbst. Ihre Mutter Ingrid wurde 1938 geboren und gehört zu der Genera­tion, die ihre schreck­liche Ver­gangen­heit gerne ruhen lassen will. Da hat es wenig Erfolg, Fragen zu stellen. Eva muss sich und ihre Gedanken der Mutter gegenüber zurück­nehmen und sich bemühen, selber etwas über das Leben der Unbe­kannten aus Norwegen herauszu­finden.

Dabei begegnet Eva dem norwegischen Historiker Laurin Abraham­sen, Protago­nist eines dritten Erzähl­strangs. Er doziert an der Univer­sität Oslo darüber, wie sich der politi­sche Blick auf Norwegens jüngere Vergangen­heit in den letzten Jahren gewandelt hat. Zunächst wurde nach Kriegs­ende das Feindbild der deutschen Besatzer aufrecht­erhalten. Damit korrespon­dierte die Verehrung der eigenen Opfer und insbeson­dere der Wider­stands­kämpfer, die, indem sie tapfer den Kampf gegen den verhass­ten Gegner auf­nahmen, ihr Leben aufs Spiel setzten.

Professor Abrahamsen will die Perspek­tive aber um eine Gruppe erweitern, der bitteres Unrecht angetan wurde. Etwa zehn Prozent der weib­lichen Bevöl­kerung Norwegens hatten sich mit deutschen Wehrmachts­angehöri­gen einge­lassen. Nach dem Krieg wurden sie pauschal verur­teilt und gesell­schaft­lich ausge­grenzt. Man beschul­digte sie der Kollabo­ration mit dem Feind, be­schimpfte sie als »Deutschen­flittchen«, verach­tete sie als Huren, viele wurden miss­handelt, manchen entzog man die norwe­gische Staats­bürger­schaft oder inter­nierte sie auf einer kleinen Insel. Ihre Söhne und Töchter, zumeist in Heimen unehelich geborene tysker­barna (»Deutschen­kinder«), waren in den Augen der Öffent­lich­keit mit einem Makel behaftet.

Siebzig Jahre lang wurde über all diese Dinge geschwiegen. Erst im Jahr 2000 entschul­digte sich die norwegi­sche Regierung bei den Kriegs­kindern, im Jahr 2018 folgte die offi­zielle Entschul­digung der norwegi­schen Minister­präsiden­tin bei den Frauen, die Beziehun­gen mit Deutschen einge­gangen waren. Doch die überfäl­ligen Gesten konnten erlitte­nes Unrecht und mensch­liches Leid kaum lindern.

Sehr geschickt vermag die Autorin die vielen zunächst rätsel­haften Puzzle­teile und verschie­denen Perspek­tiven in alternie­renden Erzähl­strängen auf zwei Zeit­schienen (Margue­rites in der Vergangen­heit, Evas in der Gegenwart) zu einem stimmigen Gesamt­werk zusammen­zufügen. So erfahren wir durch Margue­rite die histo­risch belegten Ereig­nisse und haben dadurch gewisser­maßen einen Wissens­vor­sprung, bevor wir Evas Erzählung lesen, die als Suche nach der persön­lichen ver­schwiege­nen Familien­geschichte stärker fiktio­nal geprägt ist. Dass Evas und Margue­rites Recher­chen einige Dopplun­gen zur Folge haben, ist eher hilfreich als störend, denn sie erleich­tern den Überblick über die komplexen Vorgänge.

Anja Jonuleit ist mit ihrem neuen Roman ein Kunst­stück gelungen. Er präsen­tiert histori­sche Ereig­nisse und anspruchs­volle Inhalte in einer komplexen Form, ist aber dennoch flüssig und unterhalt­sam zu lesen. Die Autorin verbindet Zeitge­schichte mit einem authenti­schen, noch immer nicht aufge­klärten Kriminal­fall zu einer emotional packen­den, dramati­schen Spannungs­geschichte, die bis zur letzten Zeile fesselt.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2021 aufgenommen.


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