
Nur ein Mensch
»Schick den Jungen nach Apollonia«, schreibt Gaius Julius Caesar im Jahr 45 v. Chr. an seine Nichte Atia. Der »Junge«, das ist ihr Sohn, der bald achtzehnjährige Gaius Octavius, der soeben von einem Spanien-Feldzug an der Seite des mächtigen Großonkels zu ihr zurückgekehrt ist. Schon bei seiner Geburt hatte Caesar ihn zu seinem Nachfolger auserkoren. Jetzt geht es zur Sache. Atia hat, was ihren Sohn betrifft, nichts mehr zu sagen; Caesar bestimmt seinen weiteren Werdegang und hat »Vorkehrungen« für seine Ausbildung und Ertüchtigung getroffen.
In Apollonia, einer griechisch geprägten Stadt (im heutigen Albanien gelegen), werden sich bessere Ärzte als in Rom um die Leiden des schwächlichen, kränkelnden jungen Mannes kümmern, Philosophen sollen sein erbärmliches Griechisch aufmöbeln und die unterentwickelte Rhetorik aufpeppen, und als Kumpanen sind auch schon drei junge Kampfgefährten abgeordnet (Marcus Vipsanius Agrippa, Quintus Salvidienus Rufus, Gaius Cilnius Maecenas).
Einer, der als dictator perpetuus unumschränkt über ein Weltreich herrscht, braucht kein Blatt vor den Mund zu nehmen. So würzt Caesar seinen Brief an Atia mit ein paar unverblümten Herablassungen gegen ihren Gatten, Gaius Octavius' Stiefvater (»ein solcher Narr, dass ich ihn fast schon wieder mag«). Der gebärde sich in Rom als Geck und schmiede »mit seinem Freund Cicero Pläne gegen mich«, allerdings auf so dilettantische Weise, dass Caesar sich wünscht, »alle meine Feinde wären so unfähig. Ich würde sie zwar weniger bewundern, wäre dafür aber sicherer«.
Was für ein Geniestreich ist dem 1994 verstorbenen amerikanischen Autor John Williams mit seinem vierten und letzten Roman »Augustus« gelungen! 1971 erschienen, erhielt er 1973 den National Book Award for Fiction und wurde dann für Jahrzehnte vergessen, ebenso wie seine Vorgänger, »Nothing but the Night« (1948), »Butcher's Crossing« (1960 [› Rezension]) und »Stoner« (1965). 2003 wurde das Buch wiederentdeckt und neu aufgelegt (»Augustus« und kommt jetzt erstmals in deutscher Übersetzung (von Bernhard Robben) in die Buchläden.
Doch wozu noch eine Lebensgeschichte von Kaiser Augustus, der doch in der Liga der Imperatoren ohnehin zu den A-Promis zählt, nach dem ein Monat benannt ist und der sogar in der Bibel einer Erwähnung würdig befunden wurde? Weil John Williams keine weitere wissenschaftlich korrekte und umfassende Biografie zu verfassen im Sinn hatte, sondern ein belletristisches Bild des Menschen Gaius Octavius und seines Lebenswerkes. Entstanden ist ein Briefroman, wobei den fiktionalen Briefen verschiedener Absender und Adressaten eine Vielzahl weitere Dokumente beigefügt sind, insbesondere Tagebucheinträge, Protokolle von Senatssitzungen, Militärdepeschen, Propagandaschriften. Aus der Fülle der Perspektiven und der Materialien setzt sich das vielschichtige Porträt einer überaus beeindruckenden Persönlichkeit und ihrer Zeit zusammen. An viele Namen und Ereignisse erinnert man sich vielleicht aus dem Geschichtsunterricht. Doch während ihre Vermittlung an das dortige pubertäre Auditorium meist schwer fällt, werden hier die Menschen lebendig, politische Zusammenhänge transparent.
Indem der Autor seinen Verfassern einen entstaubten, frischen Schreibstil in die Federn diktiert – ohne jemals flapsig oder flach zu werden –, unterhält die Lektüre auf anspruchsvolle, bisweilen amüsante Weise, und fasziniert gleichzeitig den Nicht-Historiker wie den Kenner der historischen Materie. Man kann von diesem süchtig machenden Leckerbissen einfach nicht mehr ablassen.
Die Struktur des Romans folgt klassischen Mustern: drei Bücher, gerahmt von Prolog und Epilog. Das erste Buch behandelt die unsichere Phase der intrigenreichen Machtkämpfe nach Gaius Iulius Caesars Ermordung (44 v. Chr.). Wider Erwarten und gegen alle Wahrscheinlichkeit kann der junge, immer noch kränkliche und politisch unerfahrene Octavius seine vom Großonkel vorbereitete Machtposition während der Triumvirate gegen etablierte Politprofis behaupten, bis es ihm schließlich (mit dem Sieg in der Seeschlacht von Actium 31 v. Chr.) gelingt, seinen Erzrivalen Marcus Antonius aus dem Feld zu schlagen und den römischen Bürgerkrieg zu beenden. Beleuchtet wird diese Phase geschickten, aber oft rätselhaften Taktierens mit Freund und Feind auch in der freundschaftlichen Korrespondenz zwischen dem Geschichtsschreiber Livius (»mein lieber Livy«) und Octavius' langjährigem Vertrauten Gaius Cilnius Maecenas. Ersterer interessiert sich brennend für jedes Detail aus der gemeinsamen Zeit, an das sich Maecenas erinnert. Schien ihm Gaius Octavius in Apollonia noch ein »unbedarfter Jüngling«, der »keinen großen Eindruck auf mich machte«, so ist er »heute der Herrscher der Welt«.
Seit 27 v. Chr. darf sich Gaius Octavius »Augustus« (»der Erhabene«) nennen, 2 v. Chr. erhält er den Titel pater patriae (»Vater des Vaterlandes«). Indes handelt das zweite Buch von seiner Rolle als Familienvater und seinen privaten Beziehungen. In ausführlichen Tagebuchauszügen seiner einzigen Tochter Julia wird das schwierige Verhältnis zwischen ihr und dem Vater deutlich. Sie war nichts als eine Schachfigur in seinen Machtspielen. Ganz wie es ihm günstig schien, verlobte er das Kind, verheiratete die junge Frau drei Mal und verbannte die Unfügsame mit dem liederlichen Lebenswandel schließlich auf die Insel Pandateria (Ventotene). Weitere Dokumente schildern private Begegnungen zwischen Freunden, Denkern, Künstlern und Politikern aus dem engsten Kreis um Octavius. Zwischen Klatsch und Tratsch, der Dichtkunst und Intrigen sind alle möglichen Themen vertreten.
Im dritten Buch sehen wir Augustus am Ende seines Lebens. In einem ausführlichen Brief an Nikolaus von Damaskus blickt der Sechsundsiebzigjährige im August des Jahres 14 n. Chr. zurück und in die Zukunft. Zwar hat er das Imperium vergrößert und gesichert, die Justiz reformiert und den Römern Wohlstand und vierzig Jahre Frieden gebracht. Aber er bedauert, dass die traditionellen Tugenden durch die Bürgerkriegswirren zerstört wurden. Und im Gegensatz zu den Werken der großen Dichter Ovid, Horaz, Vergil (»die freiesten und folglich warmherzigsten Menschen«) wird sein Reich – das »Poem«, dessen Elemente er geschaffen und anmutig geordnet hat – nicht ewig währen. Schon seinen Nachfolger, Stief- und Schwiegersohn Tiberius, hält er nicht für fähig, das Erreichte zu sichern.
Die Figuren, die uns auf diesen fast 500 Seiten begegnen, sind im Anhang unter der passenden Überschrift »Who's Who im alten Rom« zusammengestellt. Ihre Namen sind noch heute bekannt; in diesem Roman erwachen sie zu frischerem Leben als in den zwei Jahrtausenden zuvor. So ätzt der Ehrgeizling Marcus Antonius, im Jahr 44 v. Chr. Konsul, in seinem »Bericht über die neusten Trivialitäten« für den Militärbefehlshaber in Makedonien (»Sentius, Du alter Schwengel ...«), dass »Octavius, dieses Milchgesicht«, samt »drei Kerlen im Gefolge« ohne Terminabsprache in seinem Haus vorgesprochen habe. Nachdem Marcus Antonius die vier jungen Männer gehörig warten ließ, habe Gaius Octavius Caesar (der ererbte Beiname ist sein größtes Kapital) sein Ansinnen vorgetragen und vom einflussreichen Freund des Onkels höflich, aber bestimmt Rat eingeholt. Marcus Antonius weist ihn arrogant in seine Schranken, ohne zu ahnen, dass der »nicht sonderlich beeindruckende Wicht« einst ihn und seine Geliebte Cleopatra vernichten wird.
Am Ende seines Lebens sehen wir den ersten römischen Kaiser Rückschau halten. Er denkt an seine Unterrichtsstunden in Apollonia zurück, gesteht die emotionale Leere, als ihn dort die Nachricht von der Ermordung seines Onkels erreichte, und das »Hochgefühl«, das ihn überkam, als es ihm gelungen war, »in mir die angemessenen Empfindungen von Trauer und Verlust zu wecken«. Damals wurde ihm klar, dass sein »Schicksal schlicht darin bestand, die Welt zu ändern«. Im Alter erkennt er, der die Welt neu geprägt hat, seine Grenzen, seine Endlichkeit, die Vergeblichkeit seiner Illusionen – er ist ein Mensch wie jeder andere. Damit teilt er das Los der anderen Protagonisten der John-Williams-Romane. Wie sie begreift er »die schreckliche Tatsache [...], dass er allein ist, getrennt von allen anderen, und dass er niemand sonst sein kann als dieses arme Geschöpf, das er nun mal ist«. So formuliert Daniel Mendelsohn in dem aufschlussreichen Nachwort, das er für die amerikanische Wiederveröffentlichung von 2015 verfasst hat und das in die deutsche Ausgabe aufgenommen wurde.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2016 aufgenommen.