»Started Early, Took My Dog«
Kate Atkinsons "Das vergessene Kind" steht auf Platz 1 der KrimiZEIT-Bestenliste November 2011. Aber ist das überhaupt ein Krimi? Ja: Atkinson verarbeitet viele inhaltliche Zutaten dieses Genres (Polizei, Aufdeckung von Gesetzesbrüchen, Milieus). Und nein: Wer kaltschnäuzige Gangster, brutale Überfälle, sadistische Psychopathen, Lust am blutrünstigen Morden und dergleichen sucht, wird davon nichts finden. Auch das Cover – auf dem von rechts ein hübsches Mädchen mit weiß gepunktetem Kleid und brünetten, langen Haaren ins Bild tritt – mag falsche Erwartungen wecken.
Also ein untypischer Krimi? Atkinson schreibt zartfühlender, eindringlicher. Nicht Tötungsdelikte stehen im Mittelpunkt ihres Interesses, sondern die Charaktere in ihren begrenzten Aktionsradien. Die Figuren haben durchweg Probleme im Leben mit sich selber, ihren Familien, Freunden, am Arbeitsplatz und im Alltag. Alle sind sie auf der Suche nach nicht greifbaren Lebenszielen wie Liebe, Glück, Wärme, Anerkennung. Sie hatten Träume und Chancen, verpassten sie aber irgendwie, und Lügen der Vergangenheit belasten sie schwer. Diese psychosozialen, gesellschaftskritischen Schwerpunkte siedelt Atkinson an sehr konkreten Schauplätzen an.
Hope McMaster, eine junge Neuseeländerin, die als Adoptivkind aufgewachsen war, möchte nach mehr als 30 Jahren endlich ihre biologischen Eltern finden. Sie engagiert den fünfzigjährigen Privatermittler Jackson, um in Leeds nach ihren Wurzeln zu forschen.
Jackson hat die letzten Jahre in der Armee verbracht. Er brauchte die harte Disziplin, um seine eigenen Schicksalsschläge wenigstens zeitweise und irgendwie aus seinem Kopf und seiner Seele zu verbannen: Mutter, Bruder und Schwester sind tot, seine Tochter Niamh wurde vergewaltigt, erwürgt und in einen Fluss geworfen. Nur sein Vater lebt noch, aber mit ihm verbindet ihn nichts mehr. Wie kann ein Mensch das aushalten?
Eines Tages wird Jackson zufällig Zeuge, wie in einem Park ein gewalttätiger "Testosteronmann" seine Wut an seinem Hund auslässt, ihn fast an seiner Leine stranguliert. Ein KO-Schlag setzt den Unbekannten außer Gefecht, und das bibbernde, haarige Etwas wird von nun an Jacksons treuer Begleiter.
Hätte Tracy Waterhouse damals vor 30 Jahren den kleinen vierjährigen Michael adoptiert, ihr Leben wäre sicher anders verlaufen. Sie hatte ihn gefunden, nachdem sie mit dem Ermittlerteam der Polizei gewaltsam eine Wohnung geöffnet hatte. Drei Wochen hatte der kleine Junge in der Wohnung ausgeharrt – neben der Leiche seiner Mutter. Das Sozialamt entschied, ihn in ein Waisenhaus zu stecken.
Nun hat Tracy einen Nebenjob als Sicherheitsleiterin eines großen Einkaufszentrums. Sie beobachtet, wie die stadtbekannte Prostituierte Kelly Cross ihre kleine Tochter zusammenstaucht. Tracy erblickt dieses Kind ohne Zukunft, und blitzartig verheißt es ihr eine Lebensaufgabe, Verantwortung, Erfüllung ... "Was kostet das Kind?" fährt es in sie und aus ihr. Kelly hat genug Probleme, kann Geld gebrauchen, willigt in den Deal ein, und Tracy macht sich mit der pummeligen kleinen Courtney schnell aus dem Staub. Aber schon bald holt ihr Gewissen sie ein, denn schließlich ist ein Mensch keine Ware, und mit dem Kauf eines Kindes hat sie eine Straftat begangen.
Ein ganz armes Geschöpf ist die alternde Schauspielerin Tilly. Noch hat sie eine Rolle in einer TV-Soap, aber da sie sich kaum noch ihre Texte merken kann und demente Ausfälle und Merkwürdigkeiten auftreten, sind die Tage ihrer Berufstätigkeit gezählt, Alter und Isolation stehen ihr bevor. Warum hatte sie sich vor dreißig Jahren von ihrer Schauspielerfreundin Sallie zu einer Abtreibung überreden lassen? Zwar war das Kind nur ein Unfall aus einem One-Night-Stand mit einem Farbigen, aber immerhin wäre Tilly jetzt möglicherweise nicht allein auf der Welt.
Atkinsons Roman spielt sich in zwei zeitlich getrennten Handlungssträngen – im Jahre 1975 und in der Jetztzeit – ab. Was 1975 geschehen war, haben die beteiligten Personen längst verdrängt. Nun holt sie die Vergangenheit mit voller Wucht wieder ein. Jacksons Nachforschungen um die kleine Hope könnten die dunklen Geheimnisse lüften, doch sind Akten und Dokumente unauffindbar. Sowohl Polizei als auch Sozialamt halten sich bedeckt, man kluckt zusammen, weiß sich loyal zu verhalten. Und Tracy, die auch Auskunft geben könnte, hat panische Angst vor diesem Ermittler, der nach vermissten Kindern sucht. Wenn er sie findet, wird man ihr Courtney sicher wegnehmen, glaubt sie ...
Als Leser kann man sich zunächst kaum einen Reim darauf machen, wie das alles zusammengehört. Langsam, akribisch, konsequent und stimmig fügt Atkinson eins zum anderen, bis sich ein vollständiges Bild ergibt. Am Ende des Romans stellt sich ein trauriges Gefühl ein: Wieder sind es Frauen und Kinder, die um ihr Leben betrogen wurden.
Krimi oder nicht? Ein Blick in abgründige Leben, ein lesenswerter Roman, ein Stück gute Unterhaltung.
Zum Abschluss: Vielleicht sollte man dieses Buch lieber im Original lesen. Schon dessen lapidarer Titel "Started Early, Took My Dog" evoziert ganz anderes als "Das vergessene Kind", und in der Übersetzung gibt es etliche Textstellen, die meines Erachtens unrund, nicht ausgefeilt, holprig deutsch klingen.