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von Volker Kutscher und Kat Menschik
Die Erlebnisse des Friedrich »Fritze« Thormann nach der Olympiade 1936, während die Deutschen ihre Rechte und Freiheiten verlieren. Wie die meisten, nimmt er hin, was vor sich geht.
Neue Puzzlesteinchen
Für den fünfzehnjährigen Waisenjungen Friedrich Thormann aus Berlin hat sich im Sommer 1936 ein Traum erfüllt: Er durfte als Helfer bei den Olympischen Spielen mitwirken. Er bekam nicht nur Jesse Owens, den schnellsten Mann der Welt, zu sehen, sondern auch den ›Führer‹ Adolf Hitler in seiner Loge und Leni Riefenstahl mit ihren hochmodernen Kameras. Wie Hunderttausende Zuschauer aus Deutschland und dem Ausland ergriff das Olympia-Fieber auch den eifrigen Hitlerjungen »Fritze«. Kritische Stimmen zu längst zu beobachtenden totalitären Zügen im Lande, zu Willkür, Ausgrenzung, Unterdrückung und Gleichschaltung konnten ihn nicht mehr erreichen, seit er seinen »politisch unzuverlässigen« Pflegeeltern, dem Kriminalkommissar Gereon Rath und seiner Frau Charly, entzogen und einer regimetreuen Vorzeigefamilie zugeteilt worden war.
Wie keinem anderen Schriftsteller gelingt es dem Autor Volker Kutscher, die politische Entwicklung seit der Weimarer Republik in atmosphärischer Dichte erfahrbar zu machen und mit packenden Krimi-Plots zu verknüpfen. Seine Romane – 2020 erschien »Olympia« als achter der Reihe [› Rezension] – waren Grundlage der international gefeierten TV-Serie »Babylon Berlin«, und man muss gespannt sein, auf welchen Wegen er seine Protagonisten aller Couleur durch die schwierigen Jahre nach 1936 führen wird.
Bevor es mit einem neuen Roman weitergeht, legt Kutscher einen kleinen Band mit Briefen von Friedrich Thormann vor, der in seinem Universum eine wichtige Nebenfigur ist. Es sind ausschließlich Briefe von Fritze an andere Personen zwischen Oktober und Dezember 1936. Wie die Empfänger reagieren, was sie antworten, erfahren wir nur durch das, was Fritze in seinem nächsten Brief dazu schreibt. Um seine Geschichte zu verstehen, muss man »Olympia« nicht gelesen haben, denn die relevanten Geschehnisse werden hier rückblickend eingebunden.
Das Buch bestrickt insbesondere durch die teils ganzseitigen Illustrationen der Berliner Künstlerin Kat Menschik. Sie zeigen Werbe- und Kinoplakate, Formulare, Montagen, Zeitungsartikel, Lieferscheine, Ansichtskarten, Titelblätter, Verpackungen, Eintrittskarten, Briefmarken, Schriftzüge, Küchen- und Bürogegenstände, ein paar Porträts, Alltags- und Straßenszenen mit Bezug zu den Briefen. Der markante Stil von robust wirkenden Gebrauchsgrafiken in kräftigen Farben, die alle vom Orange des Buchschnitts abgeleitet sind, befremdet ein wenig. Einerseits schafft die realistische Gegenständlichkeit einen Bezug zur Zeit der Dreißiger, andererseits halten die schreienden Farben den Betrachter auf Distanz. Erschienen ist das hübsche, in Leinen gebundene Bändchen als elfter Teil der bemerkenswerten bibliophilen Reihe » Illustrierte Lieblingsbücher«, die Kat Menschik im Galiani-Verlag verantwortet. (Auch der Text des vierten Bandes – »Moabit« – stammt übrigens von Volker Kutscher und erzählt von Charlys Jugend.)
Fritzes Zukunft ist schon seit Beginn der Spiele gefährdet. Er wurde Augenzeuge eines Giftmordes, weshalb ihn die Gestapo sucht. Er taucht unter, nimmt den Namen »Friedrich Hutze« an, gibt sich als volljährig aus (21 statt 16 Jahre alt) und wohnt zur Untermiete im Altkölner Fischerkiez unterm Dach. Dort überfällt ihn die Einsamkeit, und er möchte zaghaft wieder Kontakt zu seinen vertrauten Mitmenschen aufnehmen. Aber er darf nicht unvorsichtig werden, muss immer auf dem »Kiwif« sein. So schickt er seine Briefe vom Postamt Spandauer Straße »postlagernd« statt an Adressen im Klartext.
Die eine seiner beiden Briefpartnerinnen ist Hannelore Schneider, 19. Er kennt sie von früher, hatte aber lange keinen Kontakt mehr zu ihr, denn sie hat schwere Zeiten hinter sich. Er berichtet ihr von seiner neuen Arbeit, bei der er eifrig Briketts in die Kohlenkeller der Mietshäuser schleppt, sich als zupackend und zuverlässig bewährt und sich über zugestecktes »Treppengeld«, ein Stückchen Kuchen oder eine Tasse Kaffee freut. Eigentlich wartet er aber auf eine Lehrstelle als Kaufmann und den zugehörigen Berufsschulplatz. Von der »lieben Hannah« erfährt er, dass sie eine Stelle bei »Wertheim«, dem großen Breslauer Kaufhaus hat, aber die Stadt ist ihr noch wenig vertraut. Er ermuntert sie, all seine Fragen bald zu beantworten, und für Weihnachten plant »Dein Fritze« sogar einen Besuch (»Ich freue mich schon wie Bolle!«). Wichtig ist ihm, dem Vielleser, ihr das eine oder andere Lieblingsbuch mitzubringen, auch wenn manche der Autoren verboten sind. Warum jemand wie Erich Kästner so ausgegrenzt werden sollte, kann er nicht nachvollziehen – er nimmt es halt so hin, »dass man den Sinn der Gesetze nicht versteht«. Die Regierung hat’s beschlossen, da wird es ja wohl richtig sein ...
Die andere Adressatin ist Charlotte Rath, seine ehemalige Ziehmutter. Nachdem ihr geliebter Gereon unter ungeklärten Umständen bei einem Schusswechsel zu Tode gekommen ist, ohne dass die Leiche gefunden worden wäre, arbeitet sie noch immer als Detektivin »vom ollen Böhm« und pflegt weiterhin Kontakte im Untergrund und zur Polizei. Ihre Vorsichtsmaßnahmen, Fritze solle seine Briefe postlagernd adressieren und auf keinen Fall einen Besuch planen, hält der arglose Junge für »ein wenig übertrieben«. Vielmehr bittet er sie um Hilfe, als er hofft, den auf ihm lastenden Verdacht abschütteln zu können, da er den Mörder gefunden zu haben glaubt.
Aus diesem brisanten Gemisch von naiven Hoffnungen, sich gesellschaftlich anbahnenden und leichtsinnig provozierten Gefahren, aus Ereignissen, die im vorangegangenen Roman angelegt wurden, und neuen Entwicklungen führt Volker Kutscher den Seitenstrang um Fritzes Aktivitäten fort. Je weiter sich der etwas unbedarfte junge Mann vorwagt, desto dünner wird für ihn die Luft.
Was um ihn herum vorgeht, durchschaut Fritze nicht. Dass die Gestapo längst ihren Apparat angewiesen hat, nach dem flüchtigen »Thormann, Friedrich« zu suchen und ihn unverzüglich festzusetzen, kann er nicht wissen, und da er wie die Mehrheit der Deutschen an das glaubt, was die Regierung ihm verkündet (»unsere Feinde im Ausland lassen nichts unversucht, das nationalsozialistische Deutschland schlechtzumachen«), ahnt er nicht, was die Zukunft noch an Schrecklichem bringen könnte. Das Land ist groß und stark, das Leben bei oberflächlicher Betrachtung gut, und viele finden ganz in Ordnung, dass es mal endlich ›ein bisschen strenger‹ und ›geordneter‹ zugeht. Immerhin hält Fritze die Augen offen.
In Fritzes kompakten, dennoch anschaulichen, treffsicheren Beschreibungen schafft Volker Kutscher wie gewohnt eine unglaubliche Authentizität, die uns im Zusammenwirken mit Menschiks Illustrationen in das Olympia-Jahr eintauchen lässt. Umgangssprache und Berliner Schnauze (»Flitzpiepe«, »Chose«) sorgen für Frische, das Amtsdeutsch aus dem Geheimen Staatspolizeiamt für Entsetzen und Vorahnungen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2021/2022 aufgenommen.