Olympia – Der achte Rath-Roman
von Volker Kutscher
Die Olympiade in Berlin verschafft Hitler internationale Anerkennung. Im Inneren erhöht sein Regime den Druck auf unliebsame Kritiker. Der Bewegungsspielraum für Menschen, die nicht die richtige Haltung zeigen, wird zusehends enger. Kommissar Gereon Rath riskiert eine Gratwanderung zwischen Anpassung bei seiner Arbeit und Widerstand.
Glorie und falscher Schein
Die Spiele der XI. Olympiade, der Völkerverständigung und dem Friedensgedanken verschrieben, fanden im August 1936 in Berlin statt. Die größten Profiteure der eindrucksvollen Veranstaltung waren die NSdAP und ihr Reichskanzler Adolf Hitler. Dessen aggressive Politik war international auf Besorgnis und Kritik gestoßen, und viele Diplomaten (die USA bereits 1933) hatten dazu geraten, die Wettkämpfe zu boykottieren. Dass die Warnungen am Ende aus unterschiedlichsten Gründen ohne Konsequenzen blieben, erlaubte es den Nazis, ein glanzvolles, von Leni Riefenstahl mit einem Meilenstein der Filmkunst geadeltes Spektakel in Szene zu setzen, ihr Land und sich selbst als weltoffen und friedliebend zu präsentieren und alle bösen Gerüchte Lügen zu strafen. Der schöne Schein war einer ihrer wichtigsten Propagandaerfolge, während hinter den Kulissen längst die übelsten Projekte vorangetrieben wurden. Seit 1935 galten beispielsweise die »Nürnberger Gesetze« zur Reinhaltung deutschen Blutes.
Citius, altius, fortius – schneller, höher, stärker: Das olympische Motto strukturiert den neuen dreiteiligen Kriminalroman um die Berliner Olympiade und den Kommissar Gereon Rath, dessen bisherigen Werdegang durch aufregende Krisenzeiten Volker Kutscher in sieben Vorläuferbänden mit umwerfendem Erfolg erzählt hat. Schilderte Band 1 (»Der nasse Fisch«) die Wirren der »Roaring Twenties« im Jahr 1929, so sprangen die Folgebände jeweils um etwa ein Jahr weiter zu einem neuen Kriminalfall und verfolgten gleichzeitig höchst eindringlich, wie sich öffentliches und privates Leben im erstarkenden Nationalsozialismus entwickelte.
Mit Gereon Rath hat Volker Kutscher einen idealen Protagonisten für dieses Langzeitprojekt geschaffen, eine gebrochene, ständig geforderte Persönlichkeit, die sich in einem heillos zersplitterten Umfeld vorantastet. Ihn leiten keine politischen Prinzipien, wohl aber der gesunde Menschenverstand, ein Gespür für Gerechtigkeit und ein ethisch-moralischer Kompass. Er durchschaut die hohle Fassade, die für das Fest der Nationen aufgerichtet wird: »Der Stürmer«, eine judenfeindliche Wochenzeitung der NSdAP, verschwindet aus den Schaukästen, antisemitische Schilder sind abgebaut, Schaufenster mit olympischen Ringen dekoriert, an Autos flattern Olympiafähnchen und Wimpel. Auf dem Boulevard Unter den Linden wurden Bäume gefällt und an ihrer Statt eine Allee von Fahnenmasten errichtet. Die Welt erliegt der infamen Täuschung, und 49 Nationen marschieren mit ihren Mannschaften zur Eröffnungsfeier ins Olympiastadion auf dem Reichssportfeld ein. Nur Spanien (wo der Bürgerkrieg wütet) und die Sowjetunion bleiben fern.
Wie so viele in jener Zeit bewegt sich Gereon Rath auf dünnem Eis. Dem Druck, der Partei beizutreten, entzieht er sich standhaft, was ihn jedoch gerade als Polizist kritischen Blicken aussetzt. Andererseits fordert Ehefrau Charlotte (»Charly«) deutlicheres Engagement von ihm. Sie zum Beispiel verhilft im Untergrund Verfolgten zur Flucht ins Ausland. Dass Gereon sich bereit erklärt, in der gemeinsamen Wohnung für die Zeit der Spiele ausländische Gäste zu beherbergen, verurteilt sie als Zugeständnis zugunsten Hitlers Propaganda. Angesichts solch inakzeptablen Mitläufertums packt sie ihre Koffer und zieht aus.
Zum Unrecht seines Staates will Gereon keineswegs beitragen, doch kann er sich natürlich nicht wehren, wenn er jetzt vorübergehend vom LKA zu einer Kriminalwache abgeordnet wird, die dringend Verstärkung benötigt. Denn mitten im olympischen Dorf gab es einen Todesfall, der das Bild harmloser Spiele trüben könnte. Ein Funktionär ausgerechnet der US-Delegation ist nach dem Mittagessen mit den Sportlern zusammengebrochen, und kein Wiederbelebungsversuch kann ihn retten. Erste Mutmaßungen gehen von Herzversagen als Todesursache aus, und dabei soll es offiziell auch bleiben.
Die Obduktion deckt allerdings einen Giftmord auf. Sogleich wird hinter der Tat eine Verschwörung vermutet (»Feinde, Saboteure der Nationalsozialistischen Regierung«; »Kommunisten, Juden oder Plutokraten«), und um einen politischen Eklat, der zum Abbruch der Spiele führen könnte, zu verhüten, sollen die Täter schnellstens ermittelt und unauffällig beseitigt werden.
Bald fasst man einen suspekten Ex-Kommunisten und zwingt ihn durch grausame Folterungen (bei deren Schilderung uns der Autor nichts erspart) zu aberwitzigen Geständnissen. Rath weiß, dass dem Mann die Deportation in ein Lager mit Zwangsarbeit bevorsteht, und bemüht sich, seine Unschuld zu beweisen, doch verschlechtert er damit die Situation des Inhaftierten noch und bringt sich überdies selbst in Gefahr. Seine Vorgesetzten zwingen den unbequem widerborstigen, unbeugsamen Kollegen, bei der bestialischen Spezialbehandlung des vorgeblichen Volksfeindes zugegen zu sein – ein Triumph ihrer Macht, und für Rath ein schmerzvolles Erlebnis, ein emotionaler Tiefschlag, eine bittere Demütigung und ein böses Omen.
Auch in seinem privaten Umfeld muss Gereon Enttäuschungen verarbeiten. Auf Anordnung des Jugendamtes wird der fünfzehnjährige Waise Friedrich Thormann, der vor einiger Zeit in die Obhut des Ehepaares Rath gegeben worden war, aus der Familie genommen. Das Paar ohne Parteizugehörigkeit sei »politisch unzuverlässig«. In sein neues Lebensumfeld, eine regimetreue Vorzeigefamilie, fügt sich »Fritze«, früher ein Straßenjunge, reibungslos ein und wird sogar für den Jugendehrendienst auserwählt, eine Garde besonders eifriger Hitlerjungen, die den Olympioniken während der Spiele in weißer Uniform als Begleitung zur Seite stehen. Insgeheim hofft er, dabei ein Autogramm von Jesse Owens, dem schnellsten Mann der Welt, zu ergattern. Seinem Pflegevater fehlt dafür freilich jegliches Verständnis. »Negersportler« gehören seiner Meinung nach von der Olympiade ausgeschlossen. Ein »Tier«, das gegen Menschen um die Wette läuft – »was soll das für einen Sinn haben?«
Fritzes Wunsch erfüllt sich nicht, sondern bringt ihn in größte Schwierigkeiten. Zufällig ist er zugegen, als »der dicke Ami … krepiert«, und nachdem er wenig später auch bei einem vermeintlichen Selbstmord im Wald anwesend ist, gerät das Leben des Jungen in Gefahr, und er taucht auf der Flucht vor der Gestapo unter.
Dem Giftmord im olympischen Dorf folgen kurz nacheinander mehrere seltsame Unglücksfälle. Jemand schubst einen Mann, der im Rollstuhl sitzt, in einen See, ein anderer wird von einem LKW überfahren. Diese und noch zwei weitere Tote sind Wehrmachtsangehörige, die zum engeren Kreis um General Göring gehörten. Die Vorfälle knüpfen an eine Geschichte aus Gereon Raths Vergangenheit an, die »Marlow«, der siebte Teil der Reihe, erzählt hat [› Rezension].
Volker Kutscher darf man ohne Bedenken als derzeit besten deutschen Autor historischer Kriminalromane preisen, und das nicht nur wegen seiner Auflage- und Verfilmungserfolge. Wie er nun schon über acht Bände die hochkomplexe und folgenschwere politische und kulturelle Entwicklung der Zwanziger- und Dreißigerjahre porträtiert und klug mit einem äußerst spannenden, fiktionalen Handlungsgeflecht verquickt, ist eine anerkennenswerte Leistung – die nachhaltige Vermittlung bedrückender Zeitgeschichte ohne aufdringliche Belehrung. Zugrunde liegt den Büchern jeweils ein Kriminalfall, aber was Kutscher daraus macht, ist ein beeindruckendes Panorama einer ganzen Gesellschaft, die in ihrem Alltag zwischen Ideologien, Krisen aller Art, Propaganda, Fortschritt, Rüchwärtsgewandtheit, neuen Medien, Gewalt, Manipulations- und Herrschaftsmechanismen beeinflusst, ermutigt, eingeschüchtert, hin und her geworfen, zerrissen und gespalten wird, bis schließlich die Diktatur alle in den Gleichschritt zwingt und jeden, der aus der Reihe tanzt, ausgrenzt und vernichtet. Vielfältige private Perspektiven und Befindlichkeiten machen die Komplexität der Zeit erlebbar. Protagonist Gereon Rath müht sich redlich, standhaft zu bleiben und seinen Kurs möglichst unauffällig zu verfolgen. Doch der beständige Druck von Erpressung und Demütigung zermürbt auch einen wie ihn, droht ihn zum Handlanger zu degradieren.
Bemerkenswert finde ich überdies, dass Kutschers prägnanter Stil solide genug ist, um sich auch über Hunderte Seiten nicht durch Gewöhnung abzunutzen. Detailliert und dicht, unterhaltsam, aber ohne Effekthascherei, so zieht er den Leser weiter, und ebenso stimmig schreitet die Handlung bis zum höchst spannenden Ende Schritt für Schritt voran, wobei alle Figuren, Handlungselemente und Motive ineinandergreifen wie die Zahnrädchen einer komplexen Maschine.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2020 aufgenommen.