
Figlia mia (Meine Tochter)
von Laura Bispuri
»Figlia mia« ist ein intensives Drama über ein zehnjähriges Mädchen, das zwischen ihrer Adoptivmutter und ihrer leiblichen Mutter hin- und hergerissen ist. Regisseurin Laura Bispuri erzählt sensibel von Mutterschaft, Identität und weiblicher Selbstfindung – kraftvoll inszeniert vor der rauen Kulisse Sardiniens.
Der sardische Kreidekreis
Die italienische Regisseurin Laura Bispuri (1977 in Rom geboren) hat mit »Figlia mia« (dt. »Meine Tochter«, en. »Daughter of mine«) ein intensives, zutiefst weibliches Drama vorgelegt, das sich mit den widersprüchlichen Facetten von Mutterschaft, Identität und Zugehörigkeit auseinandersetzt. Angesiedelt hat sie es in der kargen, heißen, mythisch anmutenden Landschaft Sardiniens, auf einem schlichten Bauernhof, wo Mensch und Tier eng beisammen leben, in einer Fischzuchtanlage, in einer vorzeitlichen Nekropole. Hier entspinnt sich eine stille, aber kraftvolle Dreiecksgeschichte zwischen einem Mädchen und zwei Müttern – der leiblichen und der sozialen –, die nicht nur das Leben der Protagonistinnen, sondern auch die Wahrnehmung des Publikums herausfordert.
Im Zentrum der Handlung steht die zehnjährige Vittoria, ein schüchternes, still beobachtendes Kind mit auffällig roten Haaren, das in einem kleinen sardischen Dorf aufwächst, bei Tina, einer liebevollen, fürsorglichen Frau, die das Kind einst bei der Geburt anvertraut bekam. Tina verkörpert jene Form von Mutterschaft, die auf Verantwortung, Verlässlichkeit und leiser Kontrolle basiert. Doch Vittoria trägt, so scheint es, einen inneren Ruf in sich, eine leise namenlose Sehnsucht nach etwas anderem. Als sie Angelica begegnet, hat sie ihr Ziel gefunden. Angelica lebt haltlos am Rand der Gesellschaft, ist emotional unberechenbar, chaotisch, verletzlich und zugleich von wilder Energie durchdrungen. Angelica ist ihre leibliche Mutter.
Zwischen Angelicas Unangepasstheit und Tinas überwachender Wärme beginnt für Vittoria ein inneres Ringen, das zu einem frühen Selbstfindungsprozess führt. Der Film beschreibt diesen Prozess nicht mit der groben Dramaturgie klassischer Konflikte, sondern mit feinem psychologischem Gespür, das im Subtext, in Blicken, Gesten, Symbolen und atmosphärischen Bildern mitschwingt. Es ist ein Coming-of-Age-Film, der nicht in der Rebellion endet, sondern in der Erkenntnis, dass Identität ein Gewebe aus Widersprüchen ist – dass eine Tochter mehr als eine Mutter braucht, um sich selbst zu begreifen.
Die Kamera bleibt stets nah an den Gesichtern, wobei das von Vittoria anfangs fast unbewegt ist und erst später eine ganz zarte Mimik (ein Blick, der Anflug eines Lächelns) verrät, wie ihr Inneres durch neue Erfahrungen und Zweifel erschüttert wird. Nicht einmal in dem zentralen Moment der Erkenntnis, wer ihre »wahre« Mutter ist, kommt Pathos auf, sondern lediglich ein leiser Ausdruck kindlich-staunenden Verstehens. Das neue Wissen verändert alles, aber es bedeutet nicht automatisch Entscheidung oder Abkehr. Vielmehr beginnt die Suche nach Integration. In einer der bewegendsten Szenen des Films stellt sich Vittoria zwischen die beiden Frauen – buchstäblich, aber auch metaphorisch. Sie übernimmt Führung. In ihrem Gesicht liegt der Trotz eines Kindes, das erwachsen wird, ohne vollständig Kind gewesen zu sein. Ihr Blick fordert nicht nur Verständnis, sondern auch Verantwortung.
Wie ein Spiegel der Seelen wirkt die weite, raue Landschaft der Insel, die Vittoria, angezogen von ihrem neuen Ziel und begleitet von einem treibenden Rhythmus, gelegentlich allein durchstreift. Weitab vom Tourismus zeigt sich Sardinien hier noch ganz archaisch: staubige Wege, vertrocknete Macchia, Tierställe, schiefe Häuser, verwitterte Höfe, ungeschlachte Umgangsformen. Während Tina nach geordneten Verhältnissen strebt, haust Angelica in einer verfallenden Hütte zwischen Hühnern und Pferden. Dass ihre Körperlichkeit, ihr Dreck, ihr Lachen, ihre obszöne Hemmungslosigkeit und die brutale Wechselhaftigkeit ihrer Emotionen (auch gegenüber Vittoria) das Mädchen nicht abstoßen, sondern Neugier und Sympathie wecken, ist überraschend. Neben der Faszination des ganz Andersartigen mag auch das unbewusste Erkennen einer Ähnlichkeit eine Rolle spielen.
Die Dynamik zwischen den beiden Müttern ist das eigentliche Herz des Films: ein emotionales Tauziehen, das keine Gewinner kennt. Angelica (verkörpert von Alba Rohrwacher) changiert zwischen kindlicher Impulsivität und verzweifeltem Aufbegehren, Tina (Valeria Golino) hingegen überzeugt durch ihre stille, bedachte Präsenz und Kontrolliertheit, doch beides geht ihr verloren, je stärker die Angst vor dem Verlust und die Verzweiflung um sich greifen. Beide Frauen lieben Vittoria, jede auf ihre Weise – und ihrer beider Liebe ist auch verknüpft mit Besitzanspruch, Wunsch nach Bestätigung, Angst vor dem eigenen Versagen.
Laura Bispuri gelingt es, die Komplexität von Mutterschaft jenseits von Klischees zu erzählen. Keine der Frauen wird idealisiert, keine dämonisiert. Stattdessen entsteht ein schmerzlich ehrliches Bild davon, wie vielschichtig und widersprüchlich Mutterrollen sein können – und wie oft Kinder zwischen den Fronten emotionaler Ungewissheiten stehen.
Das Finale ist ebenso überraschend wie utopisch: Es gibt keine Entscheidung zwischen den Müttern, kein definitives Ende, sondern einen Schritt in Richtung Koexistenz. Ein fast versöhnliches Bild entsteht, das jedoch nicht als Lösung verkauft wird, sondern als Hoffnung. Vielleicht braucht es beide Frauen – die Ordnung und das Chaos, die Kontrolle und die Wildheit – damit ein Mensch ganz werden kann.
»Meine Tochter – Figlia Mia« wurde synchronisiert und Ende März 2025 im ZDF ausgestrahlt.
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