Assandira
von Salvatore Mereu und Giulio Angioni
Costantino Saru hatte zugelassen, dass sein Sohn Mario mit seiner deutschen Frau sein altes Bauernhaus in einen Agriturismo umbaut. Die Gäste aus dem Norden sollten hier das traditionelle Leben der sardischen Hirten hautnah erleben können. So erfolgreich sich das Unternehmen entwickelt, so unwohl fühlt sich Costantino dabei, wie unterschiedlich sich die Kulturen und Gepflogenheiten entwickeln.
Verantwortung für das Erbe
Salvatore Mereus fünftem Spielfilm liegt ein gleichnamiger Roman von 2004 zugrunde, den Giulio Angioni (1939-2017) geschrieben hatte. [Auf unserer Seite finden Sie Rezensionen zweier weiterer Romane dieses bedeutenden sardischen Anthropologen und Schriftstellers, der in Deutschland studiert hat: »Doppio cielo« (2010) und »Sulla faccia della terra« (2015).] In Mereus Film wie in Angionis Roman geht es um die ur-sardische Problematik, wie einerseits die Jahrtausende alte Kultur der Insel bewahrt und andererseits in die Moderne überführt werden kann.
Der Konflikt zwischen notwendiger, berechtigter Aktualisierung des Lebens bei gleichzeitiger Respektierung der Werte der Vergangenheit manifestiert sich in der Familie Saru und zerstört sie letztendlich. Schon die Handlung des Romans ist allerdings nicht ganz lückenlos, denn auf eine derartig essenzielle Fragestellung kann es keine einfachen Antworten geben.
Im Mittelpunkt des Plots steht der alte Schäfer Costantino. Im Film wird er eindrucksvoll dargestellt von Gavino Ledda, dem 1938 geborenen Autor des bahnbrechenden autobiografischen Romans »Padre padrone« (1975) [› Rezension]. Im Gegensatz zu ihm ist sein Sohn Mario auch jenseits des Meeres herumgekommen und hat sich als Kellner und Koch bewährt. Er kehrt mit seiner attraktiven deutschen Frau Grete in seine Heimat zurück, und beide drängen Costantino, ihnen seinen leerstehenden ovile (Schafstall) zu überlassen. Sie haben erlebt, wie gern sich Touristen aus Nordeuropa für die Ursprünglichkeit, Naturnähe und Authentizität Sardiniens und insbesondere für den Reiz der archaischen Lebensweise der Hirten begeistern lassen. So wandeln sie das Gebäude in einen agriturismo um, den sie »Assandira« (»Gruß an die Sonne«) nennen. Das Konzept funktioniert ausgezeichnet: Grete begleitet die ausländischen Kleingruppen bei Ausflügen im Geländewagen, führt sie aber auch in den Stall, wo sie etwa beim Melken der Schafe ganz genau hinschauen können. Während Mario sich als zottiger Hirte gibt, vermag die sprachgewandte Grete die Touristen durch ihre lebhaften Erklärungen zu faszinieren und zu verzaubern. Schließlich ist auch Costantino überzeugt und trägt mit seinen Kenntnissen zum Erfolg des Unternehmens bei.
Doch dann kommt es immer häufiger und intensiver zu Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren. Wie weit soll die Schauspielerei getrieben werden? Sollen sich die Einheimischen an alte Traditionen und Werte halten oder den Ansprüchen und Neigungen der Gäste unterordnen? Wer ist der Herr im Haus? Zwischen Mario, Grete und Costantino sorgt außerdem für Spannungen, dass Nachwuchs ausbleibt – man trifft hier eine ungewöhnliche Entscheidung von geradezu symbolischer Strahlkraft.
Streit und Entfremdung kulminieren, als Costantino herausbekommt, in welchem Ausmaß die im agriturismo zusammengeführten Welten auseinanderklaffen. Grete und Mario hatten offenbar keine Einwände dagegen, dass eine Touristengruppe eine freizügige nächtliche Party mit billigen Mystizismen in einer Nuraghe feiert. In der nächsten Nacht bricht ein Feuer aus, das »Assandira« zerstört und in dem Mario umkommt.
Was hier chronologisch aufbereitet ist, präsentiert Mereu vom Ende her zurückblickend in kurzen Bruchstücken aus verschiedenen Phasen der Plot-Entwicklung. Der Film beginnt mit den Untersuchungen eines Richters und der Carabinieri am Brandort. Costantino erinnert sich nach und nach an die vergangenen Episoden, glaubt dabei, seine Verantwortung für das Geschehene zu erkennen, und gesteht den Ermittlern, das Feuer selbst gelegt zu haben. Denn ihn quält sein Versagen: Weder konnte er der Würde seines kulturellen Erbes gerecht werden noch seinen Sohn aus den Flammen retten. Er muss sich eingestehen, dass seine frühere Welt unwiederbringlich vergangen ist. Den Richter jedoch überzeugen die Selbstbezichtigungen des Alten nicht.
Neben Gavino Ledda (Costantino) und Marco Zucca (Mario) spielt die Deutsche Anna König die weibliche Hauptrolle (Grete). Der Film ist auf weiten Strecken italienisch untertitelt, da viel Sardisch, auch Deutsch und Englisch gesprochen wird. Gedreht wurde in der Barbagia bei Foresta Burgos.
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