Die Stärke der Schmetterlinge
Die zwölfjährige Caterina wächst in einem verwahrlosten, übervölkerten Wohnblock in Sant’Elia, einer Vorstadt von Cagliari auf. Trotz der deprimierenden Lebensbedingungen in ihrer chaotischen Patchwork-Familie bewahrt sie ihre Heiterkeit, ihre Charakterstärke und ihre Träume (z.B. »cantante« werden). In jeder Lebenslage trällert sie den »Mambo italiano«, dessen Melodie und Rhythmus sie durch die verworrensten, lautesten, bedrängendsten Situationen ziehen.
»Bellas mariposas« (1996)
von Sergio Atzeni
(1952-1995)
Während ihre Mutter arbeitet, so gut es geht, und sich bemüht, auch für ihre Kinder da zu sein, ist ihr Vater nicht nur arbeitslos und stinkfaul (»mandrone« im sardischen Dialekt), sondern hurt auch schamlos herum. Zu Hause spielt er gern den starken Max – nichts als eine hohle Fassade.
Caterina kümmert sich insbesondere um ihre kleine Schwester Luisella, während sie bei ihren Brüdern wenig bewirken kann: Der eine hing schon mit zwölf an der Spritze; die großen gehen längst ihrer eigenen Wege.
Caterinas wichtigste Bezugspersonen sind (neben Luisella) ihre gleichaltrige Freundin Luna und der etwas linkische, mollige Brillenträger Gigi, den alle mobben (am übelsten Caterinas Bruder). Caterina und Luna sind »più che sorelle«; sie vertrauen einander blind und haben keinerlei Geheimnisse voreinander. Wie »bellas mariposas« flattern sie durch ihr Viertel, beobachten, kommentieren alles und jeden, kichern unentwegt.
In ihrem desolaten Umfeld wirken die drei Mädchen wie Felsen in der Brandung. Während wir miterleben müssen, wie andere, kaum älter als sie, sexuell ausgenutzt werden und sozial abdriften, bestärken die beiden älteren einander immer wieder darin, ihre Unschuld bewahren zu wollen. Die halten sie hoch wie ein Banner, um sich abzugrenzen und zu schützen: »Samantha non è come me e Luisella … lei non è vergine come noi.«
Der einzige männliche Hoffnungsträger ist Ricciotti, das Fußballtalent, der seinen Mannschaftsverpflichtungen zuverlässig nachkommt und dadurch sogar für Papa zum Idol wird.
Bestechend und innovativ ist die außergewöhnliche Filmsprache, die Regisseur Salvatore Mereu hier kultiviert. Caterina (Sara Podda agiert großartig: unbefangen, selbstsicher, energisch, variabel) spricht direkt in die Kamera hinein, erzählt aus ihrem Leben und tratscht mit uns über alles und jeden. Der Effekt der unvermittelten Ansprache ist umwerfend, sie zieht den Zuschauer ungebremst hinein ins Geschehen. Die Wirkung verstärkt, dass die Kamera ständig sehr nah am Geschehen bleibt. Die Räume sind vollgepfropft mit Ramsch, und selbst wenn, wie oft, ein Gesicht in Großaufnahme die Leinwand ausfüllt, ragen irgendwelche Gegenstände ins Bild – eine Atmosphäre ständiger Hektik, Bedrängung, Unfreiheit. Nur relativ selten gönnt uns einmal eine Totale einen ruhigen Überblick. Der einzige Ort ungestörten Selbstseins in der Wohnung ist das Badezimmer.
Caterina erzählt uns einen entscheidenden Tag in ihrem Leben – es ist August und sehr heiß. Nachdem sie uns im ersten Teil des Films mit ihrer Umgebung vertraut gemacht hat, fährt sie im zweiten Teil mit ihrer Freundin im Bus ans Meer, wo sie erst ein Weilchen die Freiheit unter Wasser genießen (»dimentico di tutto«) und Unmengen Eis verputzen. Dann holen all die kleinen Motive des Anfangs sie ein, die Handlung spitzt sich zu, die beiden geraten in Gefahr, Caterina muss Entscheidungen treffen, um z.B. Gigi (»l’innamorato mio«) vor seinen Häschern zu retten, auf dem Platz vor dem Wohnblock treten eine Wandertruppe und eine Wahrsagerin auf, die Caterina Entlastung bringen könnte, die Stimmung wird ein wenig magisch; dann gibt es einen Toten, die Polizei rückt an …
Ein realistischer, turbulenter Film, zart-bitter, abenteuerlich und schonungslos, originell gemacht, ideal für Jugendliche, ein rundherum überzeugendes Kunstwerk für Erwachsene. Es wird viel Dialekt gesprochen, was den Genuss für uns leider einschränkt.
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