Übersicht Filmserie Il giovane Montalbano
von Andrea Camilleri
Rezension der Gesamtserie. Eine komplette, stets aktualisierte Übersicht der Titel, Textgrundlagen und Besprechungen aller Filme finden Sie hier.
Sicilianità – zurück zu Montalbanos Anfängen
Wohl jeder italienische Fernsehzuschauer kennt die Serie »Il Commissario Montalbano« mit Luca Zingaretti in der Hauptrolle, von der das italienische Staatsfernsehen RAI zwischen 1999 und 2018 bereits 32 Folgen ausgestrahlt hat und das Publikum jährlich neuen entgegenfiebert. Der Erfolg dieser kongenialen Verfilmungen von Andrea Camilleris ur-sizilianischen Kriminalromanen war so überzeugend, dass eine zweite Serie gestartet wurde, die sich mit den beruflichen Anfängen des Kommissars Salvo Montalbano in den frühen Neunzigerjahren beschäftigt: »Il giovane Montalbano«. Im Februar/März 2012 gingen die ersten sechs Folgen dieser Prequel-Reihe über den Bildschirm und schlugen so gut ein, dass sie 2015 mit einer zweiten Staffel fortgesetzt wurde. (Hier finden Sie Details zu allen Filmen dieser Serie.)
Als ich zum ersten Mal von dem Projekt erfuhr, eine Serie über die Vorgeschichte von »Il Commissario Montalbano« aufzulegen, war ich äußerst skeptisch. Muss nicht jedes Schauspieler-Team scheitern, wenn es gegen populäre Stars aus (damals) 22 Folgen antreten muss? Muss es nicht zu einem enttäuschenden Bruch kommen, wenn man an eine in dreizehn Jahren verdichtete Atmosphäre anknüpfen soll?
Andererseits finde ich die frühen Geschichten, die Rückblenden in Salvo Montalbanos Anfangsjahre als »il trentino vicecommissario« (»Quello che contò Aulo Gellio | Die Geschichte von Aulus Gellius«) erzählen, besonders reizvoll und anrührend. Lesen Sie nur den Anfang von »La veggente | Die Hellseherin« (1998):
A Carlòsimo, Salvo Montalbano passò uno dei più amari inverni della sua giovane vita. Aveva trentadue anni, allora, e lo usavano come una specie di commesso viaggiatore: a ogni cangio di stagione lo trasferivano da un paese all’altro ora a fare una sostituzione, ora a tappare un buco, ora a dare una mano d’aiuto in una situazione d’emergenza. Ma i quattro mesi di Carlòsimo furono i peggio di tutti. Era un paesotto di collina dove ragionevolmente non avrebbe dovuto farci tutto quel freddo che sempre ci faceva e invece un misterioso incrociarsi e combinarsi di eventi meteorologici faceva sì che uno a Carlòsimo il cappotto pisanti e la sciarpa non se li levasse mai, a momenti manco quando andava a corcarsi. Gli abitanti, che erano sì e no un settemila, non erano gente tinta, anzi; solo che non davano confidenza, salutavano a stento, erano mutàngheri. [...] Alle otto di sìra, tutti a casa, le strate svuotate col vento che faceva rotolare barattoli vuoti, che sollevava in aria fantasmi di carta. Non c’era un cinema, alla cartolibreria vendevano solo quaderni. E c’era da aggiungere al conto che per quella stessa congiuntura (o meglio, congiura) meteorologica i due canali della televisione allora esistenti mandavano solo immagini d’ectoplasmi. Per il vicecommissario Montalbano, responsabile dell’ordine pubblico, un paradiso; per l’uomo Montalbano, una calma piatta da limbo, una continua istigazione al suicidio o al gioco delle carte. [...]. L’unica era di darsi alla lettura: in quell’inverno si fece Proust, Musil e Melville. Almeno ci guadagnò questo.
In Carlòsimo verbrachte Salvo Montalbano einen der bittersten Winter seines jungen Lebens. Er war damals zweiunddreißig, und man setzte ihn wie eine Art Handelsreisenden ein: Zu jedem Wechsel der Jahreszeiten wurde er von einem Ort in den nächsten geschickt, mal zu einer Vertretung, mal um ein Loch zu stopfen, mal um in einer Notlage auszuhelfen. Aber die vier Monate in Carlòsimo waren die schlimmsten. Es war ein Marktflecken in den Hügeln, wo es eigentlich nicht so kalt hätte sein dürfen, wie es immer war, aber eine rätselhafte Überschneidung und Kombination meteorologischer Vorgänge brachte es mit sich, dass man in Carlòsimo seinen dicken Mantel und den Schal nie ablegte, es fehlte wenig, und man wäre sogar damit schlafen gegangen. Die Einwohner, ungefähr siebentausend, waren keine schlechten Menschen, ganz im Gegenteil; nur wurde man nicht richtig warm mit ihnen, sie grüßten kaum und waren wortkarg. [...] Um acht Uhr abends waren alle in ihren Häusern, die Straßen leer gefegt, der Wind rollte leere Dosen vor sich her und wirbelte Papiergespenster in die Luft. Es gab kein Kino, in der Buch- und Schreibwarenhandlung wurden nur Hefte verkauft. Obendrein sendeten aufgrund ebenjenes meteorologischen Kompotts (oder besser gesagt Komplotts) die beiden Fernsehsender, die es damals gab, nur verschwommene Bilder. Für den Vicecommissario Montalbano, der für die öffentliche Ordnung zuständig war, ein Paradies; für den Menschen Montalbano eine laue Ruhe wie im ersten Höllenkreis, eine fortwährende Anstiftung zum Selbstmord oder zum Kartenspiel. [...] Der einzige Lichtblick war das Lesen: In jenem Winter las er Proust, Musil und Melville. Wenigstens das hatte er davon.
So etwas zu verfilmen ist gewiss reizvoll. Folge 1 von »Il giovane Montalbano« setzt denn auch sozusagen abgefedert ein – erst mit einer Szene aus dem Kriegsjahr 1943, begleitet von den bekannten zarten Gitarrenklängen, die ein Geheimnis ankündigen; dann schwenkt die Kamera hinauf ins winterlich-kalte Bergdorf Mascalippa, wo wir dem noch unbekannten giovane Montalbano (Michele Riondino) erstmals begegnen. Die ersten Sätze, die er mit seinem Polizisten wechselt, die erste Konfrontation mit einem lokalen Raubein – und schon sind wir mittendrin und fühlen uns wie zu Hause ... Erstaunlich!
Selbstverständlich wird es in den nachfolgenden Filmen wärmer, wenn Salvo Montalbano nach Vigàta versetzt, zum commissario befördert wird und seine villetta am Meer bezieht. Wenngleich Michele Riondino gertenschlank ist, über eine dichte Lockenpracht verfügt und sich dadurch rein äußerlich deutlich von seinem alter ego Luca Zingaretti absetzt, können die beiden tatsächlich als ein und derselbe Salvo Montalbano durchgehen, denn beide beherrschen das differenzierte, hintergründige Mienenspiel, die raschen Wechsel in den Emotionen, die vielen verschiedenen Tonlagen, die Salvos Wesen kennzeichnen.
Die anderen Schauspieler weichen stärker von ihren Vorgängern bzw. Nachfolgern ab. Sarah Felberbaums Livia ist süß zum Dahinschmelzen, wo Katharina Böhm oft einen Hauch Herbheit und Skepsis bewahrt und ihre Nachfolgerin Sonia Bergamasco (seit 2016) vergleichsweise farblos bleibt.
Der gereifte Mimì Augello (Cesare Bocci) ist zwar immer noch kein Kostverächter, aber viel bodenständiger als in seiner Jugend (Alessio Vassallo): Da sieht er mit seinem schmalen Lippenbärtchen aus wie eine Mischung aus Clark Gable und Rudolph Valentino und führt sich auf wie ein papagallo aus den Fünfzigern ...
Eine regelrechte Fehlbesetzung scheint mir allein Catarella: Angelo Russo gibt in der Hauptserie einen kleinen, stämmigen, quirligen, begriffsstutzigen Tolpatsch vor, der schon reichlich karikaturistische Züge trägt. Fabrizio Pizzuto aber muss ständig überziehen: Von ihm kommt kein normaler Satz, keine normale Geste – und dann ist er auch noch groß und spindeldürr.
Derlei fällt aber nur im Vergleich der beiden Serien auf; bleibt man innerhalb von »Il giovane Montalbano«, stellen sich bald ähnliche Empfindungen ein wie beim Betrachten der ursprünglichen Serie: ein konsequentes, stimmiges Konzept, eine getreue Umsetzung von Camilleris Vorlagen, eine unterhaltsame Filmreihe mit wohltuend ruhiger, klarer Atmosphäre, die die Besonderheiten und den Zauber der Schauplätze einfängt.
Neben den Protagonisten ist sie bevölkert von einer Vielzahl kauziger, meist liebenswürdiger Typen wie etwa dem pensionierten geometro (in »Ritorno alle origini«; in der Kurzgeschichte ist er ragioniere), der seit zwanzig Jahren alles, aber auch wirklich alles aufbewahrt – »canottiere usate, tappi, rifiuti organici« ... Die meisten dieser Gestalten stammen aus den zahlreichen kurzen Geschichten, die Camilleri zwischen 1998 und 2004 veröffentlicht und in vier Sammelbänden veröffentlicht hat. Den zwölf Fernsehfilmen liegen 26 Erzählungen zugrunde, von denen siebzehn in den Jahren 1998 bis 2004 entstanden, allein elf aus den Bänden »Un mese con Montalbano | Das Paradies der kleinen Sünder« (1998) und »Gli arancini di Montalbano | Die Nacht des einsamen Träumers« (1999). Fast alle Geschichten aus jenen Jahren zeigen ein unverfälschtes Bild sizilianischen Provinzlebens, gewiss leicht nostalgisch, aber doch glaubhaft, und es herrscht eine wunderbar intime Leichtigkeit, eine zutiefst menschliche Stimmung und ein unvoreingenommenes Streben nach Gerechtigkeit, die nicht unbedingt dem staatlichen Recht entsprechen muss. Sie haben Camilleri zu Anerkennung, Beliebtheit und Erfolg verholfen. Dagegen wurden neun der vierzehn Textgrundlagen der zweiten Staffel erst ab 2012 verfasst (davon sieben im 2014 maßgeschneiderten Band »Morte in mare aperto e altre indagini del giovane Montalbano | Der ehrliche Dieb«), und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der inzwischen fast neunzigjährige Autor hier längst zum Lieferanten einer Erfolgsmaschine verflacht ist.
Nach zwölf Folgen kann »Il giovane Montalbano« neben der etablierten Erfolgsserie »Il Commissario Montalbano« durchaus bestehen – beide sind eigenständig angelegt, überzeugend realisiert und harmonisieren prächtig miteinander. Das verdanken sie natürlich nicht zuletzt dem soliden gemeinsamen literarischen Fundament Andrea Camilleris.
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