Rezension zu »Su ballu ‘e s’arza – Il ballo dell’argia« von Serafino Deriu

Su ballu ‘e s’arza – Il ballo dell’argia

von Serafino Deriu


Film · · 16 Min.
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sardinien

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Magische Heilung

Rezension vom 28.05.2016 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Der interessante Versuch, ein uraltes Ritual des Volks­glaubens anschaulich zu machen und zugleich in unsere Zeit zu transpo­nieren. Ein Mann wird durch Tänze, Gesänge usw. von der unglück­lichen Seele befreit, die sich seiner bemächtigt hatte. Mit Exorzis­mus, wie ihn törichte Hollywood-Horror­filme ausmalen, hat das nichts zu tun. Vielmehr geht es um die Dokumen­tation tief verwur­zelter natur­mysti­scher Vor­stellun­gen vom Menschen: Bei dem Kranken ist etwas in Unord­nung geraten; jemand, der dank seiner Erfah­rungen über ein tieferes Verständnis verfügt, versucht die Ursache zu erspüren; kann sie mit zweck­mäßi­gen Mitteln ausge­schal­tet werden, ist das natürliche Gleich­gewicht wieder­herge­stellt. Ähnliche Wirkung sagt man ja auch dem Tanz der Tarantella nach.

Die Handlung ist einfach: Der junge Pietro kehrt vom Militär­dienst in Norditalien in sein sardisches Heimat­dorf bei Macomer zurück, in dem sich seit langem nichts verändert hat: Die Oma sitzt am Webstuhl, der Vater hackt im Garten, die Mutter bessert Kleidung aus. Man denkt an den Bruder, der in Deutsch­land arbeitet. Alles bereitet sich auf das bevor­stehende Fest des San Giovanni vor. Pietro kehrt in den Kreis seiner Tanz­gruppe zurück, nimmt wie früher an den Proben und dem Fest teil, erlebt Ge­borgen­heit und Freude, die von innen heraus erwächst.

Plötzlich wird Pietro von einer arza gebissen. Das ist die einzige gefährliche Spinnenart in Italien, auch argia oder varza genannt (was »bunt, vielfarbig« bedeutet). Ihr Biss löst schmerz­hafte Unter­leibs­krämpfe, Fieber und Entkräf­tung aus. Aber niemand ruft einen Arzt, wenn doch jeder weiß, was der Vorfall in Wahr­heit bedeutet und wie dem Mann geholfen werden kann.

Als erste Maßnahme steckt man ihn mit den Füßen voraus in den warmen Ofen. Dann trifft pro­fessio­nelle Hilfe ein: Die junge, energische Heilerin Burica, im schwarzen Umhang nach alter Sitte gewandet, wirft alle Gaffer raus, um in Ruhe auf den Beses­senen einreden zu können. Woher kommt er? Was hat er erlebt? Schließ­lich kommt sie der »comare Arza mia« auf die Spur und beschwört sie: »Dovete lasciare questo corpo. Parlate. Mi dovete dire che Arza siete!«

Die Zielrichtung der Therapie ist jetzt klar: Zuerst tanzt ein Kreis alter Frauen den »ballo delle vedove«; Pietro liegt reglos in ihrer Mitte ausge­streckt. Seine Agonie weicht nicht, es muss sich also ein anderer Typ von arza seiner bemäch­tigt haben. Jüngere Frauen müssen versuchen, ihn zu animieren. Bis zum Hals wird er mit Stroh zugedeckt, dann folgt ein erneuter Rundtanz mit Gesang, der »ballo delle nubili«.

Drei Tage dauert die Behandlung mit Umtanzen, Singen, Streicheln, Zureden, bis Burica feststellt, man habe die arza gefunden: Es handle sich, schildert sie lebhaft, um »un’Arza nubile« aus Oliena, die – unglück­lich verliebt – Pietro in Besitz genom­men hatte. Da sie erkannt und ihre Schuld vergeben ist, kann sie sich entfernen, und der junge Mann ist wieder frei und geheilt. Klar, dass man das mit einem fröh­lichen Ab­schluss­fest und weiterem Tanzen und Musizieren feiert.

Der Film schafft eine altertümliche, anrührende Atmosphäre, als trage sich die Handlung vor hundert Jahren zu; die wichtigsten Fort­bewe­gungs- bzw. Transport­mittel sind Pferd, Esel, Maultier und Ochsen­karren; wir sehen die Menschen Stein­brocken sammeln, Trocken­mauern bauen, unterm Baum Brotzeit halten …

Das ist alles wunderschön anzuschauen. Die Tänze und Rituale berühren uns aus ferner Zeit, und es ist fraglos interessant zu erfahren, was für ein Menschen­bild und was für natur­magi­sche Hinter­gründe und Legen­den von ver­wun­sche­nen, unglück­lichen, Rache suchenden Seelen dahinter­stecken. Doch die Insze­nie­rung als heutige Realität vorzu­spielen ist unnötig und zuviel des Guten; nicht einmal im ent­legens­ten sardi­schen Weiler werden heutige junge Leute derart aus der Zeit gefallen sein und aus vollster Über­zeu­gung uraltem Aber­glauben nachhängen.

Im Übrigen gibt es eine viel breitere Varianz von argia-Ritualen, als der Film mit diesem Konzept illus­trie­ren kann. Sie können religiöse Symbolik tragen (vgl. die drei Tage zwischen Biss und Wieder­erwe­ckung / Hei­lung), viel häufiger aber derb erotische Züge. Man steckte den armen Kranken nackt in einen Sack voller Mist oder auch in sein Bett, es umsprangen ihn ledige, verhei­ratete, verwit­wete Frauen, man suchte ihn durch alberne oder obszöne oder provokante Bewegungen und Sprüche zum Lachen zu bringen – viel­leicht gar keine so abwegigen Therapien, um dem erkrankten Körper frische Abwehr­kräfte zuzu­führen. Mag es sich aus natur­wissen­schaft­licher Sicht bloß um eine Art Placebo-Effekte handeln, so unter­stützen sie doch die biologi­schen Mechanis­men, wie wir sie heute durch­schauen und nutzen.


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