Su ballu ‘e s’arza – Il ballo dell’argia
von Serafino Deriu
Magische Heilung
Der interessante Versuch, ein uraltes Ritual des Volksglaubens anschaulich zu machen und zugleich in unsere Zeit zu transponieren. Ein Mann wird durch Tänze, Gesänge usw. von der unglücklichen Seele befreit, die sich seiner bemächtigt hatte. Mit Exorzismus, wie ihn törichte Hollywood-Horrorfilme ausmalen, hat das nichts zu tun. Vielmehr geht es um die Dokumentation tief verwurzelter naturmystischer Vorstellungen vom Menschen: Bei dem Kranken ist etwas in Unordnung geraten; jemand, der dank seiner Erfahrungen über ein tieferes Verständnis verfügt, versucht die Ursache zu erspüren; kann sie mit zweckmäßigen Mitteln ausgeschaltet werden, ist das natürliche Gleichgewicht wiederhergestellt. Ähnliche Wirkung sagt man ja auch dem Tanz der Tarantella nach.
Die Handlung ist einfach: Der junge Pietro kehrt vom Militärdienst in Norditalien in sein sardisches Heimatdorf bei Macomer zurück, in dem sich seit langem nichts verändert hat: Die Oma sitzt am Webstuhl, der Vater hackt im Garten, die Mutter bessert Kleidung aus. Man denkt an den Bruder, der in Deutschland arbeitet. Alles bereitet sich auf das bevorstehende Fest des San Giovanni vor. Pietro kehrt in den Kreis seiner Tanzgruppe zurück, nimmt wie früher an den Proben und dem Fest teil, erlebt Geborgenheit und Freude, die von innen heraus erwächst.
Plötzlich wird Pietro von einer arza gebissen. Das ist die einzige gefährliche Spinnenart in Italien, auch argia oder varza genannt (was »bunt, vielfarbig« bedeutet). Ihr Biss löst schmerzhafte Unterleibskrämpfe, Fieber und Entkräftung aus. Aber niemand ruft einen Arzt, wenn doch jeder weiß, was der Vorfall in Wahrheit bedeutet und wie dem Mann geholfen werden kann.
Als erste Maßnahme steckt man ihn mit den Füßen voraus in den warmen Ofen. Dann trifft professionelle Hilfe ein: Die junge, energische Heilerin Burica, im schwarzen Umhang nach alter Sitte gewandet, wirft alle Gaffer raus, um in Ruhe auf den Besessenen einreden zu können. Woher kommt er? Was hat er erlebt? Schließlich kommt sie der »comare Arza mia« auf die Spur und beschwört sie: »Dovete lasciare questo corpo. Parlate. Mi dovete dire che Arza siete!«
Die Zielrichtung der Therapie ist jetzt klar: Zuerst tanzt ein Kreis alter Frauen den »ballo delle vedove«; Pietro liegt reglos in ihrer Mitte ausgestreckt. Seine Agonie weicht nicht, es muss sich also ein anderer Typ von arza seiner bemächtigt haben. Jüngere Frauen müssen versuchen, ihn zu animieren. Bis zum Hals wird er mit Stroh zugedeckt, dann folgt ein erneuter Rundtanz mit Gesang, der »ballo delle nubili«.
Drei Tage dauert die Behandlung mit Umtanzen, Singen, Streicheln, Zureden, bis Burica feststellt, man habe die arza gefunden: Es handle sich, schildert sie lebhaft, um »un’Arza nubile« aus Oliena, die – unglücklich verliebt – Pietro in Besitz genommen hatte. Da sie erkannt und ihre Schuld vergeben ist, kann sie sich entfernen, und der junge Mann ist wieder frei und geheilt. Klar, dass man das mit einem fröhlichen Abschlussfest und weiterem Tanzen und Musizieren feiert.
Der Film schafft eine altertümliche, anrührende Atmosphäre, als trage sich die Handlung vor hundert Jahren zu; die wichtigsten Fortbewegungs- bzw. Transportmittel sind Pferd, Esel, Maultier und Ochsenkarren; wir sehen die Menschen Steinbrocken sammeln, Trockenmauern bauen, unterm Baum Brotzeit halten …
Das ist alles wunderschön anzuschauen. Die Tänze und Rituale berühren uns aus ferner Zeit, und es ist fraglos interessant zu erfahren, was für ein Menschenbild und was für naturmagische Hintergründe und Legenden von verwunschenen, unglücklichen, Rache suchenden Seelen dahinterstecken. Doch die Inszenierung als heutige Realität vorzuspielen ist unnötig und zuviel des Guten; nicht einmal im entlegensten sardischen Weiler werden heutige junge Leute derart aus der Zeit gefallen sein und aus vollster Überzeugung uraltem Aberglauben nachhängen.
Im Übrigen gibt es eine viel breitere Varianz von argia-Ritualen, als der Film mit diesem Konzept illustrieren kann. Sie können religiöse Symbolik tragen (vgl. die drei Tage zwischen Biss und Wiedererweckung / Heilung), viel häufiger aber derb erotische Züge. Man steckte den armen Kranken nackt in einen Sack voller Mist oder auch in sein Bett, es umsprangen ihn ledige, verheiratete, verwitwete Frauen, man suchte ihn durch alberne oder obszöne oder provokante Bewegungen und Sprüche zum Lachen zu bringen – vielleicht gar keine so abwegigen Therapien, um dem erkrankten Körper frische Abwehrkräfte zuzuführen. Mag es sich aus naturwissenschaftlicher Sicht bloß um eine Art Placebo-Effekte handeln, so unterstützen sie doch die biologischen Mechanismen, wie wir sie heute durchschauen und nutzen.
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