Westward ho!
Wenn der Autor Alex Capus "eine Reise tut", so erwartet man schon, dass er was ganz Besonderes erzählen kann. Schließlich hat er mit "Leon und Louise" einen großartigen Erfolg hingelegt (Lesen Sie hier meine Rezension zu Alex Capus: 'Leon und Louise' auf Bücher Rezensionen). Jetzt hat es ihn aus seiner beschaulichen eidgenössischen Kleinstadt Olten in den fernen "Wilden Westen" gezogen, um ihn aus erster Hand kennenzulernen.
Ganze Generationen erforschten dieses mythische Land mit der Taschenlampe, während sie nachts heimlich unter der Bettdecke die in tanniges Grün gebundenen Schmöker von Karl May verschlangen; später durften sie legendäre Kinofilme und Fernsehserien anschauen und mitfiebern, wenn heroische oder niederträchtige, in jedem Fall aber wagemutige Cowboys, Revolverhelden, Indianer, Sheriffs, Trapper und Siedler um Recht, Beute und Macht kämpften.
Inzwischen wurde das Genre des Western totgeritten; seine Motive und Bilder werden in heutigen Filmen nur noch zitiert. Auch der amerikanische Westen ist weitgehend entmythologisiert; man weiß, was da wirklich geschah. Diesen Spuren ging Alex Capus nach, als er fünf Geisterstädte und die berühmte Route 66 bereiste. Herausgekommen ist ein kleines, wunderschön gestaltetes Büchlein voller skurril anmutender Episoden aus der Zeit zwischen 1540 und 1877.
Der Spanier Francisco Vásques de Coronado bricht 1540 im Auftrag des Vizekönigs mit einer gigantischen Begleittruppe von Mexiko aus auf, um die sagenhaften "sieben goldenen Städte von Ciboa" im Norden zu suchen. Aber leider finden die Männer nur Hopi-Lehmhüttendörfer, den Grand Canyon und viele von ihnen den Tod. Leichtgläubig in ihrer Gier waren sie den klugen Irreleitungen der Ortskundigen aufgesessen, die diese gefährlichen Abenteurer schnell wieder loswerden wollten.
Im lausigen Winter 1877 muss man in der ehemaligen Goldgräberstadt Bodie, 2554m über dem Meeresspiegel in der Sierra Nevada gelegen, den Boden mit Dynamit sprengen, um all die Minenarbeiter, die wie die Fliegen an Diphtherie und anderen Krankheiten sterben, beerdigen zu können. Schon damals waren chinesische Wanderarbeiter vor Ort, die die Beerdigungen zu einem Festmahl werden ließen.
Derlei Begebenheiten erzählt Capus in einem amüsanten Berichtston, belebt sie mit frei erfundenen, schnurrigen Dialogen, würzt sie mit ironischen Kommentaren und dokumentiert sie mit historischen Schwarz-weiß-Fotografien und Zeitungsausschnitten. Herrlich anzuschauen! Leider sind die Reproduktionen der Fotos unverständlicherweise recht winzig; bei vielen hätte ich mich sehr gern in alle Details versenkt, um der so schön beschriebenen Situation auch bildlich ganz nah zu kommen ... eine vergebene Chance.
Manchmal möchte man glauben, Alex Capus, der Romancier par excellence, binde uns so manchen Grizzly auf, wenn er Historisches auf unnachahmliche Weise fiktional verpackt. Doch es ist die Realität, die schier Unglaubliches produziert. So schlägt Capus einen kühnen Bogen von Louis Munzinger, einem Oltener, der eigentlich ein Bayer war und 1870 in die Neue Welt emigrierte, um im Westen sein Glück mit selbst gebrautem Bier zu machen, bis in die heutige Zeit. Denn es gibt sie immer noch, die Munzingers, in der achtzehnten Generation und in großer Zahl. Also muss doch jener Louis irgendwie ... das kann doch gar nicht anders sein ... aber folgen Sie selbst all den Linien, die Capus bis zum Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urahn zeichnet, die Ahnenreihen rauf und runter, auf dem Stammbaum die Äste wechselnd, bis er schließlich auf Ernst Gustav Munzinger stößt, der traurige Berühmtheit erlangte, denn er wurde mit den Attentätern des 20. Juli 1944 zusammen hingerichtet, weil er deren Mitwisser war.
Bereisen Sie mit Capus virtuell die kleinen Städtchen, die eins wie's andere aussehen: Bodie, Panamint City, Skidoo, Salt Wells und Hawiku. Bei diesem dünnen Büchlein (77 Seiten einschließlich Abbildungsnachweis) darf man als Rezensentin wirklich nicht mehr verraten, aber vor einer Fehlinvestition muss ich Sie doch warnen, falls Sie mit Capus im Gepäck tatsächlich in den Westen zu reisen planen: Lassen Sie die Route 66 links liegen – sie ist einfach nur öde. Scharen älterer Herren tuckern auf ihren antiken Harley-Davidsons stundenlang mit konstanten 80mph dahin, darunter auch hinreichend betuchte deutsche Möchtegern-Easy-Riders. Im Gegensatz zu Dennis Hopper, dem großen Vorbild, sind sie keineswegs born to be wild, sondern haben ihr iPhone in der Tasche des teuer angedrehten Fransen-Outfits, die verspiegelte RayBan auf der Nase und Bluthochdruckpillen in der Satteltasche. Ihre Rollkoffer werden vom Reiseveranstalter zum nächsten Holiday Inn transportiert. Sic transit gloria occidentis ...