Der Carabiniere, der den Teufel fangen soll
Ein brutaler Frauenmörder treibt 1848 sein Unwesen in Turin, der Hauptstadt des Königreichs Sardinien-Piemont. Zwei Prostituierte hat er schon nächtens aufgeschlitzt, ohne Spuren zu hinterlassen. Noch können die Behörden verhindern, dass die Untaten die Bürger beunruhigen. Aber lange wird sich nicht verheimlichen lassen, was vor sich geht, zumal das, was die wenigen Zeugen berichten, den Atem gefrieren lässt: Der Täter verbirgt sein Gesicht hinter einer gespenstischen silbernen Maske, einer Art Schnabel, wie ihn früher die Pestärzte trugen. Auffällig genug ist auch sein wallender dunkler Mantel. Man nennt den Mann »Il Diaul«, il diavolo.
Der Täter muss schnell gefasst werden, das fordert die Obrigkeit. Angst vor einem Serienmörder und Misstrauen in die Fähigkeit der Behörden, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, das ist das Letzte, was das Land in diesen ohnehin unruhigen Zeiten brauchen kann. Das Königreich, seit dem Wiener Kongress wiederhergestellt, steht im Krieg mit Österreich. Zwar hat man die Feinde unter ihrem Feldmarschall Radetzky gerade zurückdrängen können, aber ihre Übermacht ist kaum zu leugnen. Überdies ist König Carlo Alberto ein Zauderer; das Schwanken seiner Ansichten von Tag zu Tag ist sprichwörtlich. Sein Sohn Vittorio Emanuele ist aus einem anderen Holz geschnitzt, aber er ist noch zu jung, um mitentscheiden zu dürfen. (1861 wird er als Vittorio Emanuele II. zum ersten König des vereinigten Italien berufen werden.)
Carlo Albertos wichtigster Berater ist Graf Camillo Cavour, ein eleganter, pragmatischer und weitsichtiger Diplomat. Er hat nicht weniger im Sinn, als Piemont zu einem modernen, aufgeklärten Staat und die Hauptstadt Turin zu einem Leuchtturm der Zivilisation zu wandeln. Wie Neapel, London und Paris wird die Stadt mit ihren feinen Adelspalästen, Theatern, teuren Cafès und erlesenen Salons seit Neuestem durch Gaslaternen erhellt! Die Bürger wissen das zu schätzen, bringt es ihnen doch neben Glanz und Gloria auch Sicherheit.
Aber in Piemont rivalisieren etliche politische Strömungen miteinander. Viel Aufsehen erregen die Aufständischen, die für die Einheit Italiens kämpfen. Die extremsten sind der Kreis um den Revolutionär Giuseppe Mazzini. Auf der anderen Seite stehen die Reaktionäre, an ihrer Spitze der Herzog Pasquier, denen jeder Aufruhr ein Greuel ist. Graf Cavour hält zu beiden Distanz, und beiden ist er ein Dorn im Auge, den einen zu modern, den anderen zu bedächtig.
Wie soll man mit dem bedrohlichen Mordfall umgehen? Wer kann ihn lösen? Gut, dass König Vittorio Emanuele I. schon drei Jahrzehnte zuvor eine neue Elitetruppe eingerichtet hat: die Carabinieri reali. Die stolzen ›königlichen Gewehrschützen‹ gehören zum Heer, verteidigen also im Krieg das Vaterland wie andere Truppeneinheiten, sollen aber auch in der zivilen Öffentlichkeit Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten. Diese Aufgabe obliegt auch der Polizei, und so stehen die beiden Organisationen in beständiger Konkurrenz und unter gegenseitiger Kontrolle (und das übrigens bis heute).
Der Fall des Serienmörders wird dem jungen Major Emiliano Mercalli di Saint-Just übertragen, der soeben an vorderster Front dabei war, als dreihundert carabinieri-Reiter unter dem Kommando von Negri di Sanfront in einer Blitzattacke den Österreichern die Festung Pastrengo an der Etsch abnahmen. Großgewachsen und dunkel im Teint, mit dunklen Augen und einer faszinierenden Narbe im Gesicht kann ihm keine Frau widerstehen, auch nicht Naide Malarò, die attraktive Schauspielerin und Sängerin, die seit ihrem Debüt zwei Jahre zuvor enthusiastisch gefeiert wird. Sie ist eine starke, selbstbewusste Frau, ihr Herz allerdings ist flatterhaft und launisch …
Emiliano ist gut vernetzt. Er kennt nicht nur den Conte Cavour und andere Prominente, sondern auch den Freigeist und Forscher Gualtiero Lancefroid. Dieser in jeder Hinsicht unabhängige, weitgereiste, universell belesene und hellsichtige Mediziner erörtert nicht nur mit seinem Freund, wie vorzugehen ist, sondern greift selbst tatkräftig ein und ermittelt unbekümmert auf eigene Faust, ohne Emiliano auch nur zu informieren. Ohne moralische Skrupel folgt er allein den Gesetzen der Logik – seine Deduktionsketten und seine Diktion erinnern stark an Sherlock Holmes.
Dieser klare, aber auch recht eindimensionale Charakter rückt den eigentlichen Protagonisten Emiliano bisweilen geradezu in den Hintergrund. Anfangs noch tapfer, stolz und zuversichtlich, wirkt der junge Maggiore zunehmend ratlos.
Natürlich lassen sich die grausamen Taten des ›Diaul‹ nicht verheimlichen. Der Druck der Straße wächst – und gerät mitten in die politischen Auseinandersetzungen: Ist das Monster im einfachen Volk oder womöglich im Adel zu suchen? Ist er Einzeltäter oder Teil einer Verschwörung? Als Flugblätter das Gerücht streuen, das Monster verberge sich im Ghetto, nehmen aufgebrachte Bürger die Verfolgung in die eigenen Hände und drohen, das Judenviertel zu stürmen. König Carlo Alberto hatte den Juden gerade volle Bürgerrechte und ein Ende der Diskriminierung zugesichert; nun schürt die Aktion erneut Hass gegen sie. Unter dem widerstreitenden Druck von Politik, Öffentlichkeit, Gualtiero Lancefroids Argumenten, dem Geschrei des Pöbels, seines eigenen Gewissens und der Vernunft begeht Emiliano, l’eroe di Pian del Co’ und verantwortlicher Maggiore dei Carabinieri reali, einen folgenreichen schweren Fehler.
Bis der Mörder doch noch identifiziert ist, lesen wir einen geradlinig erzählten Krimi, dessen Stärke die Beschreibungen der Befindlichkeiten, Umbrüche und Auseinandersetzungen im piemontesischen risorgimento sind. Der carabiniere Emiliano ist der einzige differenzierte Charakter, alle anderen bleiben relativ typisiert. Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch, denn die Spannung bleibt bis zum Schluss erhalten, und de Cataldos Sprache und Erzählstil sind gefällig.
Carabinieri sind eine traditionsreiche und stolze Abteilung im Polizeiwesen Italiens, die sich ihrer Verdienste ebenso bewusst sind wie ihres Vorbildcharakters. So ist es wenig verwunderlich, aber dennoch eine originelle Idee, dass sich die Arma dei Carabinieri anlässlich des 200. Jahrestages ihrer Gründung (am 13. Juli 1814 durch König Vittorio Emanuele I.) auch literarisch feiert. In Kooperation mit dem Verlag Einaudi wurden vier Bücher von Autoren der ersten Liga aufgelegt, die den Ruhm der Zunft zu mehren vermögen. Eine Sonderausgabe wird nur an carabinieri abgegeben. Die vier Titel erzählen vom erfolgreichen Wirken der carabinieri in drei Phasen ihrer Geschichte:
• 1846-48: Giancarlo De Cataldo: »Nell’ombra e nella luce« [› Rezension] (Oktober 2014) – Der historische Kriminalroman spielt in Turin, mitten in den ideologischen Wirren der Gründungszeit des italienischen Nationalstaats und des Aufstands gegen Österreich. Zwischen Revolutionären und Vertretern der alten Ordnung, schönen Frauen, Freunden und Feinden jagen die carabinieri einen Serienmörder.
• 1899: Carlo Lucarelli: »Albergo Italia« [› Rezension] (Juni 2014) – Der meisterhafte historische Kriminalroman um den carabiniere Colaprico und seinen einheimischen Assistenten Ogbà schildert das Leben in der italienischen Kolonie Eritrea anno 1899. Hinter einem scheinbar belanglosen Diebstahl aus einem militärischen Warenlager und einem vorgetäuschten Selbstmord im repräsentativen Nobelhotel werden Missstände sichtbar, die das italienische Gemeinwesen noch heute belasten.
• 1980er Jahre: Gianrico Carofiglio: »Una mutevole verità« [› Rezension] (Juli 2014) – Der Mörder ist schnell gefasst und durch Indizien eindeutig überführt, doch maresciallo Fenoglio traut dieser Wahrheit nicht. Ein philosophisch angehauchter Krimi.
• 1980er Jahre: Valerio Massimo Manfredi: »Le inchieste del colonnello Reggiani« [› Rezension] (April 2015) – Die fünf Kriminalgeschichten erzählen von der Aufklärung spektakulärer Kunstdiebstähle. Die carabinieri agieren auf internationalem Parkett, um italienisches Kulturgut zu retten.