Wir stehen das durch
Die Lanes haben guten Grund, sich um ihre Sicherheit zu sorgen. Kapstadt ist eine der gefährlichsten Städte der Welt, und der Reichtum der weißen Familie weckt Begehrlichkeiten. Natürlich wohnen sie nicht in der Nähe der townships, sondern in Newlands, einem exklusiven Vorort an den Südhängen des Tafelberges. Mauern und Hitech-Installationen rund um das noble Anwesen sollen Kriminelle fernhalten, ein privater Sicherheitsdienst zeigt permanent abschreckende Präsenz.
Doch weit abscheulicher als die Gefahr, die von draußen droht, ist das Böse, das längst im Inneren residiert. Christopher, der achtzehnjährige Sohn des Hauses, privilegiert und behütet aufgewachsen, von der Mutter verhätschelt, braucht keine Mauer zu überwinden, um in dieser heißen Weihnacht eine junge Frau umzubringen. Ihr durchdringender Todesschrei reißt die Eltern aus ihrer lustvollen Zweisamkeit. Als sie die Tür zum Poolhaus öffnen, bietet sich ihnen ein Horrorszenario. Auf dem Körper der Frau sitzend, drischt Chris mit einer Zehn-Pfund-Hantel auf ihren Kopf ein. Von ihrem Gesicht zeugen nur noch herumliegende Zahnknochensplitter und »eine breiige Masse aus ...« – der unappetitliche Rest sei Ihnen hier erspart. Wer schon einen Thriller von Roger Smith gelesen hat, weiß, dass ihn gleich auf den ersten Seiten ein blutiges Gemetzel erwartet und weitere folgen werden. Doch welche Überraschung: Wenig später muss man anerkennen, dass dieser Autor durchaus anders schreiben kann. Nicht, dass sein neuester Krimi ohne Gewaltszenen auskommt, aber er ist wohltuend weniger brutal und wühlt den Leser dennoch nicht weniger auf.
Denn die Familie Lane ist ein lebendes Geflecht von Unaufrichtigkeit und kalten Intrigen. Bevor Vater Michael die Polizei verständigt, hat die alerte Mutter Beverly bereits ein perfektes Lügengebäude konstruiert, um ihren geliebten Chris vor dem Gefängnis zu bewahren. Zufälligerweise war nämlich an diesem Abend auch Lynnie, der Sohn der schwarzen Hausangestellten Denise, im Hause. Er brauchte mal wieder Geld für Drogen und hat, um seiner Mutter die Dringlichkeit besonders zu verdeutlichen, seine Fäuste sprechen lassen. Da bietet es sich doch an, ihm den Mord in die Schuhe zu schieben, etwa so: Lynnie sei im Poolhaus aufgetaucht, habe Chris zur Rede gestellt, ihn mit der Hantel bewusstlos geschlagen, und als Chris wieder aufwachte, hätten die Eltern im Raum gestanden und das Mädchen habe tot auf dem Boden hingestreckt gelegen ...
Beverlys Vorhaben ist umso infamer, als Lynnie und seine ein Jahr ältere Schwester Louise im Haushalt der Lanes aufgewachsen sind, zusammen mit Chris. Vor allem Michael hatte sich intensiv um die beiden vaterlosen farbigen Kinder von Denise gekümmert. Ihre Lebenswege drifteten bald auseinander. Während Louise, »beängstigend intelligent«, unbeirrt auf ihr Englischstudium an der Universität von Kapstadt losmarschierte und noch bei ihrer Mutter im Dienstbotencottage lebt, hat Lynnie die Schule geschmissen, ist eines Tages abgehauen und auf die schiefe Bahn geraten. Seine neuen Freunde aus der Cape-Flats-Gang wurden seine Vorbilder. Jetzt sind sie alle drogenabhängig und stehen auf Crystal-Meth (»Tik«).
Chris, ein stämmiger »Grobian«, war dem gleichaltrigen Gefährten Lynnie, schmächtig und schüchtern, schon immer überlegen. Einmal wäre Lynnie fast ertrunken, als Chris ihn in den Pool warf und unter Wasser drückte, bis er fast erstickte. Heute ist Chris ein erfolgreicher Rugbyspieler, ein massiges, breitschultriges Muskelpaket von 90 Kilogramm, durchtrainiert und mit jeder Menge Steroiden aufgeputscht. So ein Kleiderschrank soll von einem Bürschchen wie Lynnie, einem »Hänfling«, einem von der Sucht gezeichneten »Schwächling«, »überrumpelt« worden sein?
Nicht nur Louise kann bei ihrer Rückkehr aus der Uni nicht fassen, was im Hause Lane geschehen ist – und dass ihr Bruder ein Mörder sein soll, kann sie erst recht nicht glauben. Auch Detective Gwen Perils vom Morddezernat, die Mutter Beverlys »bereinigte Version der Wahrheit« aufnimmt, ist keineswegs überzeugt von der Vorstellung, die die Lanes ihrem Ermittlerteam geboten haben. Trotzdem wird Lynnie verhaftet, sein »publicityträchtiger Fall« zügig abgearbeitet und das Urteil gesprochen: »schuldig«; 25 Jahre Haft ohne Bewährung. Louise ist machtlos. Sie kann nichts für ihren Bruder bewirken; selbst eine Kaution wurde abgelehnt.
Damit scheint für die Lanes alles wunschgemäß in trockenen Tüchern. Ihren früheren Schützling Lynnie, inzwischen nur noch der »kleine Tik-Süchtige«, der doch ohnehin »jetzt schon am Ende« war, haben sie »ganz einfach über die Klinge springen« lassen, damit ihr Sohn die Verantwortung für seine unmenschliche Tat nicht zu schultern braucht. Eine Spezial-Reinigungsfirma hat alle physischen Spuren im Poolhaus beseitigt. Von nun an gilt Beverlys Order: »Wir werden nie wieder darüber sprechen, Michael, hast du mich verstanden?«
Doch so einfach ist die Wahrheit nicht wegzudrücken. Das schlechte Gewissen nagt an Michael, und er empfindet sich als »jämmerlichen Schwächling«. Seine Frau liebt er schon lange nicht mehr, und auch die Verbindungen mit Chris hat er schon vor Jahren verloren. Wenigstens Louise möchte er wieder mit Anstand ins Gesicht sehen können. So hadert er mit sich und weiß doch, dass ihm gar keine Wahl bleibt: Seit er nach einem tödlichen Unfall Fahrerflucht beging, hat Beverly ihn fest in der Hand.
Bevor Michaels Befürchtungen, eines Tages werde alles »auffliegen«, Lyndall ein entlastendes »Alibi liefern« oder ihr unberechenbarer Sohn, »die tickende Zeitbombe«, wieder mal jemanden zusammenschlagen, Wirklichkeit werden, löst sich das Problem sozusagen von selbst. Lynnie wird gar nicht erst in den Normalvollzug verlegt. Schon im Zellentrakt für Untersuchungshäftlinge bringt man ihn um, und zwar auf bestialische Weise – die unappetitlichen Details seien Ihnen hier erspart ...
Damit ist die Handlung keineswegs komplett verraten. Roger Smiths Roman legt hier eigentlich erst richtig los. Aus regelmäßig wechselnder Perspektive (Louise/Michael) wird in präziser, sachlicher Sprache ganz unaufgeregt erzählt, wie die Dinge im gleichen Maß ihren Lauf nehmen, bis sie in einer völlig unerwarteten Aktion zu einem unglaublichen, atemberaubenden Showdown kulminieren.
Zunächst ist Louise am Boden zerstört. Dass ihr Bruder unschuldig verurteilt und dann auf grausamste Weise ermordet wurde, hat ihr jeden Lebenswillen geraubt. Am meisten macht ihr zu schaffen, dass Michael, ihr stets geschätzter Ersatzvater und der einzige anständige Charakter in der Familie Lane, die Wahrheit noch immer zurückhält. Dann trifft sie zum ersten Mal im Leben ihren leiblichen Vater Achmat (ein Schwerverbrecher aus den übelsten Slums) und hört seine Strategie: »Gesetz ist Gesetz, und das Gesetz ist alles, was wir haben. [...] Lass ihn leiden [...] lass ihn leben und töte das, was er am meisten liebt.«
Als Louise Michael auf tragische Weise schließlich da hat, wo sie ihn haben will – in der »Hölle« –, begegnen sie einander zum ersten Mal auf Augenhöhe. »Endlich hat sie seine volle Aufmerksamkeit«, ist der Schlusssatz dieses faszinierenden Thrillers. Jeder der Täter des Dreierbundes wird im Handlungsverlauf zu einem Versehrten, Chris physisch und psychisch zugleich. Am Ende des Romans haben alle drei verloren, was ihnen im Leben etwas bedeutet hat. Aus Tätern wurden Opfer.
Roger Smiths Roman »Sacrifices«, den Klaus Timmermann und Ulrike Wasel übersetzt haben, spielt Jahre nach dem Ende der Apartheid. Doch die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen besteht kaum vermindert weiter, wie das Beispiel Louise zeigt. Dank Michaels Förderung hat sie eine Aufstiegschance. Sie hat ihr Afrikaans abgelegt, das triste Farbigen-Milieu hinter sich gelassen und darf als Akademikerin auf eine gut bezahlte Stelle hoffen. Aber niemals wird sie von der weißen Elite als Gleichwertige akzeptiert werden. Keine Grenzen gibt es bei der hemmungslosen Gewaltausübung, und auch Gut und Böse unterscheiden sich nicht nach der Hautfarbe.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2015 aufgenommen.