Rezension zu »Acht Berge« von Paolo Cognetti

Acht Berge

von


Belletristik · DVA · · Gebunden · 256 S. · ISBN 9783421047786
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Aostatal

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Würde und Werte

Rezension vom 14.10.2017 · 46 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Pietro ist ein Stadtkind. Er wächst in den Siebziger­jahren in Mailand heran, wo sein Vater Giovanni als Chemiker in einer Fabrik arbeitet. Es ist die Zeit der heftigen Arbeits­kämpfe in Nord­italien. Obwohl der Vater die Anliegen der Arbeit­nehmer teilt, schließt er sich den wilden Streiks nicht an. Das liegt nicht nur daran, dass er als Einzel­gänger und Frei­denker keine Gruppen­zugehörig­keit empfindet. Vielmehr sind ihm der Großstadt-Moloch und die Auf­geregt­heit der Arbeits­welt zuwider. In ihm rührt sich eine gene­relle Zivili­sations­skepsis und die Sehn­sucht nach einem anderen Leben.

Italienische Originalausgabe:
»Le otto montagne«
(2017, Verlag Einaudi)
Paolo Cognetti: »Le otto montagne« auf Bücher Rezensionen
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Das findet er in der Bergwelt der Dolomiten, die seine Frau und er (beide im Veneto geboren und aufge­wachsen) lieben gelernt und wo sie 1971 geheiratet hatten. Um der Mai­länder »Hölle« wenigs­tens zeitweise zu entkom­men, mieten Pietros Eltern ein Haus in dem abge­legenen Vierzehn-Seelen-Dorf Grana. Während der Vater an Werk­tagen in die Fabrik zurück muss, verbrin­gen Mutter und Sohn ein Leben weitab von Lärm, Getriebe und Moder­nität der Industrie­stadt.

Die Antithese Stadt versus Natur ist einer der zentralen Aspekte in Paolo Cognettis beein­drucken­dem Roman. Aber die Wildnis wird hier in keiner Weise simpli­fiziert, idylli­siert oder roman­tisiert, sondern behält all ihre Wucht und Würde. Funktiona­lisiert wird sie als Kataly­sator für innere Vorgänge der Protago­nisten.

Im ersten Teil (»Berge der Kindheit«) lässt Cognetti den Jungen erzählen, wie sich die schwierige Beziehung zu seinem Vater vollzieht. Für Pietro ist das keine geruh­same beider­seitige Annähe­rung, sondern zunächst eine schmerz­liche Phase zunehmen­den Unverständ­nisses und Befrem­dens dem Vater gegen­über. Der entwickelt während seiner Aufent­halte in Grana eine regel­rechte Obsession für die Dreitau­sender des Monte-Rosa-Massivs, wo das Dorf in einer Tal­schlucht liegt. Der früh­morgend­lich begin­nende, gnaden­lose Aufstieg ist die Fortfüh­rung eines Wett­kampfes, den er zeit­lebens gegen sich, »gegen irgendwen oder was« austrägt. Bei so einem »Wettlauf« ist keine Zeit für eine Pause, die Betrach­tung der Land­schaft oder ein Gespräch. Ist die höchste Höhe erreicht, geht es ernüch­tert wieder ins Tal hinab. Im Laufe der Jahre arbeitet der Vater alle umlie­genden Gipfel ab und registriert sie in einer Wander­karte »wie ein General seine Erobe­rungen«. Aber mit seiner Begeis­terung gelingt es ihm, seinen kleinen Sohn anzu­stecken. Er lehrt ihn das Berg­steigen, und das ist »viel­leicht die einzig richtige Erziehung, die mir von meinem Vater jemals zuteil wurde«.

Später widersetzt sich Pietro dem dominanten Vater. Ihm nicht mehr in die Berge zu folgen bedeutet für den jungen Mann eine Art »Befrei­ungs­akt«. Die Distanz zu dem »Dick­kopf und Drauf­gänger« vergrößert sich mit der Zeit mental und räumlich. Erst Jahre nach dem Tod des Vaters, der seinem Sohn so viele Spuren hinter­lassen und ein Grund­stück in den Bergen ver­macht hat, fürchtet Pietro, dass er in Folge seiner Abwesen­heit viel­leicht »Wichtiges verpasst«, seine Zeit mit Neben­säch­lichem vertrödelt habe.

Im Weiler Grana gibt es außer dem Ich-Erzähler ein einziges weiteres Kind, den ein Jahr älteren Bruno. Von dem wort­kargen, schlichten Jungen, der nur die Grund­schule besucht hat, lernt Pietro, sich auf die unwäg­baren Eigen­heiten der Jahres­zeiten einzu­stellen und die Viel­fältig­keit der Berge zwischen Verlo­ckung, Schönheit, Gefahr und Gewalt zu würdigen. Diese Eindrücke prägen ihn nach­haltig, und das Leben in und mit der Natur wird zum Kern seines Wesens gehören.

Während Bruno all dies genug ist – er wird als Berg­bauer sein Aus­kommen finden und die Berge nie verlassen –, weitet Pietro seine Kreise. Als junger Mann verlässt er dieses »Para­dies«, macht eine Ausbil­dung zum Doku­mentar­filmer, lebt in Turin, reist bis in den Himalaya. Aus Nepal stammt die Legende, auf die sich der Titel des Romans bezieht und aus der sich eine philo­sophi­sche Frage ableitet: Der gigan­tische Gipfel Sumeru bildet den Mittel­punkt der Welt. Acht Berge um­schlie­ßen ihn. Welcher dieser Orte bringt die wahre Erfül­lung?

Die Kameradschaft der beiden Jungen reift über die Jahre zu einer ehrlichen, verant­wortungs­vollen Männer­freund­schaft, die so intensiv und fest ist, dass Pietro später seinen langen Aus­lands­aufent­halt abbricht, um Brunos Hilferuf aus der Heimat zu folgen.

»Acht Berge« ist eine ruhige, beruhigende Lektüre, deren Werte, Reize und Wirkun­gen entdeckt und geschätzt werden wollen. So ist die Span­nung zwischen Vater und Sohn unter­schwel­lig immer vorhan­den, ohne dass sie nach außen gekehrt werden müsste. Von der Mutter abge­sehen, sind alle Figuren intro­vertiert, und ihre Befind­lichkei­ten werden stark beein­flusst von der Natur und den Grund­stimmun­gen der Jahres­zeiten vom Aufbruch im Frühjahr, Hochge­fühlen im Sommer, Entspan­nung und Reifung im Herbst bis zur langen, dunklen Einsam­keit des Winters.

Die geradezu archaische Nähe zur Natur, die auch der Autor Paolo Cognetti zu lieben gelernt hat – 1978 in Mailand geboren und weit gereist, verbringt er inzwi­schen mindes­tens die Hälfte des Jahres in einer abge­lege­nen Berghütte – führt unweiger­lich zu einer kriti­schen Sicht­weise des modernen Menschen. Heftig und aggressiv äußert sich Vater Giovanni über Touristen, Skifahrer und Berg­steiger, die auf bequeme Art über die Natur herfallen. Die gewal­tigen zer­störeri­schen Eingriffe, um den Massen die Bergwelt zu »erschlie­ßen«, rauben ihr ihre Würde und machen ihn (und den Autor) wütend. Der beschei­dene Berg­bauer Bruno ist Sinn­bild eines verant­wortli­chen, respekt­vollen, nach­haltigen, nicht roman­tischen, sondern anstren­genden Umgangs mit der Land­schaft. Lässt der Mensch in seinen Bemühun­gen der Nutz­bar­machung nach, erobert sich die Natur ihren Raum schnell zurück. Versagt er ihr den Respekt, schlägt sie uner­bitt­lich und brutal zurück.

Dieser Roman umfasst ein ganzes Leben und erzählt die Ent­wick­lungs­geschich­te einer auf­richti­gen, unver­brüchli­chen Freund­schaft. Er ist ein Plädoyer für alt­herge­brachte zwischen­mensch­liche Grund­werte und Verhaltens­weisen – Zuver­lässig­keit, Stand­haftig­keit, Wert­schät­zung, Vertrauen bilden, sich treu bleiben, Maß halten, einfache Dinge achten. Am Ende geht es um die ewigen Fragen, wie und wo sich der Mensch selbst findet, was ihn glücklich macht.

Paolo Cognettis Buch »Le otto montagne« Paolo Cognetti: »Le otto montagne« bei Amazon (von Christiane Burkhardt übersetzt) trifft etliche Bedürf­nisse unserer Zeit – nach Ent­schleuni­gung, nach be­ruhigen­den Gewiss­heiten, nach Bewah­rung, nach mensch­licher Wärme und nach Befreiung vom Sog der Digitali­sierung, die das Indivi­duum von sich und der Realität entfremdet. Es ist bezeich­nend, dass dieser sehr persönliche Roman mit seinem sanften, klaren Stil 2017 mit dem bedeu­tenden Premio Strega ausge­zeich­net wurde.


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