Rezension zu »Montecristo« von Martin Suter

Montecristo

von


Thriller · Diogenes · · Gebunden · 320 S. · ISBN 9783257069204
Sprache: de · Herkunft: ch

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Das Innenleben der Seifenblase

Rezension vom 25.03.2015 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Mitten im Tunnel kommt der Intercity Zürich-Basel zum Stehen. Die Fahrgäste – über­wie­gend Finanz­jongleure in dunklen Businessanzügen, die nach einem rei­chen Arbeitstag am Finanzplatz Zürich möglichst schnell nach Hause wollen – sind genervt: »eine Zu­mu­tung ... es gibt andere Methoden. Solche, die nicht den Feierabend von ein paar hundert Nicht­de­pres­si­ven versauen.« Wieder einmal war einer aus dem Zug gesprungen, ein »Personenschaden«.

Ein Videojournalist auf dem Weg zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung zückt seine Kamera, schwenkt durch den Speisewagen, fängt O-Töne ein, hält die gereizte Stimmung fest. Der tamilische Kellner erklärt, solche Vorfälle gebe es häufiger. »Ein so gutes Leben, wie es die Schweizer hätten, sei eben kaum auszu­halten.«

Mit diesem eiskalten Kammerspiel stellt uns Martin Suter den Protagonisten seines brillanten neuen Ro­mans vor. Nein, er heißt nicht Allmen, sondern Jonas Brand, ist 38 und ein mäßig engagierter Journalist für ein öffentlich-rechtliches Lifestyle-Magazin. Zur Fundraising-Party in Basel kommt er zu spät, die Akkus sind fast verbraucht, aus der Reportage, wie Promis »mit viel Trara nicht so viel Geld sammeln«, wird wohl wie­der kein Knüller, und auch das fragmentarische Material aus dem Tunnel legt er erst einmal unbear­bei­tet auf Eis.

Gut zwei Monate später (kurz vor Weihnachten) sehen wir Jonas Brand dennoch als glücklichen Mann. Das liegt an Marina Ruiz, Mitarbeiterin bei einer Eventagentur. Zu der hübschen Zürcherin (groß, asiati­sche Ge­sichts­zü­ge, schulterlanges Haar) entwickelt er eine ungekannte, spontan vertrauensvolle Zunei­gung. Frei von der Leber weg erzählt er ihr von seinem wahren Traum, einem Filmprojekt, das mangels Geldgebern seit sechs Jahren ebenfalls auf Eis liegt. Es handelt sich um eine moderne Version des »Grafen von Monte Christo«: Ein junger Neureicher, durch ein Dotcom-Startup schnell zu Reichtum gelangt, stürzt in tiefstes Elend, als man ihm in Thailand Drogen ins Urlaubergepäck schmuggelt und er Jahre im Gefäng­nis schmach­ten muss. Derweil verkaufen seine Geschäftspartner in der Heimat die Firma und leben vom Erlös in Saus und Braus. Endlich gelingt Montecristo die Flucht. Mit neuer Identität und chirurgisch ver­wandelt kehrt er zurück und rächt sich an den Schurken ...

Jetzt nimmt Jonas Brands Schicksal seinen Atem beraubenden Lauf. Nach dem Dominosteinchen-Prinzip entwickelt Martin Suter auf raffinierte Weise den Handlungsgang, der seinen Helden mal als Hans im Glück, mal als einen, der auszog, uns das Fürchten zu lehren, erscheinen lässt.

Noch kann er glauben, die Gunst des Schicksals lächle ihm zu, als er seiner Putzhilfe zwei Hundert-Fran­ken-Scheine ins Haushaltsbuch legen will. Einen findet er im Portemonnaie, den zweiten in seinem speziel­len Safe, der Statue einer vietnamesischen Muttergottheit, die er aus Saigon mitgebracht hatte (wir sehen sie auf dem Cover schmunzeln). Der Hohlraum in ihrem Inneren lässt sich durch einen geheimen Mecha­nismus öffnen. Als Jonas die beiden Hunderter betrachtet (keine allzu regelmäßigen Gäste in seinem Haus­halt), traut er seinen Augen nicht: Beide tragen absolut identische Seriennummern! Mindestens einer muss also eine Fälschung sein. Doch sein Bankberater bestätigt tags darauf die Echtheit beider Exemplare – das seien einzigartige »Sammlerstücke«. Eine alle Sinne betörende Nacht bei Marina rundet die Glückssträhne ab.

Bei seiner Heimkehr findet Jonas seine Wohnung verwüstet vor. Die herbeigerufene Polizei nimmt den Fall gar nicht erst auf, da Herr Brand möglicherweise die Tür offen gelassen hatte. Glücklicherweise liegen die beiden Zwillingsscheine unentdeckt und gut geschützt im Leib der Muttergottheit auf Eis.

Uns dämmert's: Da will jemand Jonas ans Fell. Erst dringen Unbekannte in seine Privatsphäre ein; wenig später wird er vor Marinas Tür überfallen. Doch Naivling Jonas kann sich keine Erklärung denken und will nicht an Zusammenhänge glauben. Immerhin vertraut er sich einem Kollegen an. Max Gantmann, ein ab­gehalfterter Wirtschafts- und Börsenexperte, rät ihm, er solle »verdammt gut« auf die Scheine und auf sich selbst aufpassen, denn ein solcher Fehler – zwei identische Geldscheine – hätte der Sicherheitsdruckerei COROMAG niemals unterlaufen dürfen; jetzt darf er um keinen Preis öffentlich bekannt werden.

Jonas' Neugier ist geweckt. Unter dem Vorwand eines Reportage-Projekts (»Manager in ihrem Arbeits- und Privatumfeld«) erhält er einen Termin bei Adam Dillier, CEO von COROMAG. Während der Mann mit der »Lizenz zum Gelddrucken« dem netten Interviewer stolz die ausgeklügelten Sicherheitsmerkmale seiner Produkte erläutert, legt ihm der seine Sammlerstücke vor: »Und wie erklären Sie unseren Zuschau­ern das?« Dillier hat Mühe, die Fassung zu wahren.

Da hatte Jonas, ohne es zu ahnen, mitten in ein lebensgefährliches Wespennest gigantischen Ausmaßes ge­piekst. Nachdem der Trader Paolo Contini (der »Personenschaden« aus dem Tunnel) ein paar Monate zu­vor einen »zweistelligen Milliardenbetrag verzockt« hatte, drohte einer Schweizer Großbank der Ruin, dem Finanzplatz Zürich der Misskredit einer »Bananenrepublik« und dem internationalen Bankensystem der Untergang. (Wir kennen das ja zur Genüge.) Also warf man die Gelddruckmaschine dergestalt an, dass man »Doppelzifferungen« – Scheine, die die COROMAG eigentlich hätte schreddern müssen – klamm­heimlich in Umlauf brachte. Niemand hätte ein Räppli auf das »unwahrscheinliche Zusammentreffen meh­rerer ihrerseits höchst unwahrscheinlicher Ereignisse« gewettet, dass zwei identische Scheine sich in einer Hand begegnen und auch noch eines vergleichenden Blickes gewürdigt werden. Und jetzt spaziert die wan­deln­de statistische Unwahrscheinlichkeit in Person eines unbedeutenden Journalisten herein und wagt sich an eine Enthüllungsstory!

Adam Dillier steht am Abgrund: »Der Super-GAU war eingetreten.« Seinem Kollegen William Just, CEO der Schweizer Großbank GCBS, signalisiert er: »Mayday, Mayday, Mayday«. Dann treffen sich die beiden mit Jean Seibler, Chef der zweiten Schweizer Großbank SIB, und Konrad Stimmler, Präsident der Schwei­ze­ri­schen Bankenaufsicht SBA. In den Händen dieser vier Männer liegt jetzt (bei »Bauernterrine aus Ge­flü­gel­le­ber und gepfeffertem Schweinebauch«, gefolgt von bretonischem »Hummer in Gelée mit frischen Man­deln«) das wirtschaftliche Wohl und Wehe der Eidgenossenschaft, wenn nicht der gesamten Welt. Die Herrscher der Geldwirtschaft sind fest entschlossen, sämtliche Abwehrkräfte zu mobilisieren, um das »Worst Case Scenario« zu verhindern, und dieser Zweck heiligt alle Mittel. Über subtile Verflechtungen und Netzwerke reichen die Arme dieser Herren weit, ohne dass sie sich die Fingerspitzen schmutzig ma­chen müssten. Um die »Zeitbombe« zu entschärfen, gibt es »Spezialisten«, die über Leichen gehen.

Jonas allerdings erlebt ein Zwischenhoch: Auf einmal erfährt sein »Montecristo«-Drehbuch unerwartete fi­nanzielle Förderung. Er reist zur weiteren Recherche nach Thailand, gerät dort allerdings schnell in Tur­bu­len­zen ...

Vertuschung und Verschwörung am sauberen Schweizer Finanzplatz, um eine weltweite Katastrophe ab­zu­wen­den, davon handelt Martin Suters Roman. Allein das Gerücht, eine Großbank sei unterkapitalisiert, wür­de, wenige Jahre nach der Pleite der Lehman Brothers, einen Skandal auslösen, der das Zeug hat, die Weltwirtschaft zu ruinieren. So lange aber das fragile Finanzsystem aus FED, IWF, DBB, EZB usw. zu­sam­men­hält, »schweben wir alle weiter in der großen Seifenblase. Und wir werden uns darin so behutsam wie möglich bewegen, denn niemand will, dass sie platzt.«

Martin Suters geistreicher Finanzthriller scheint gar nicht weit weg von der Realität, die wir täglich in den Medien durchleuchtet finden. Er gibt ihr nur menschliche Gesichter und Geschichten. Wenn die Wirklich­keit der Wahrheit nicht mehr standhalten kann, bedienen sich die Macher eben der »Lüge«, um ihre Fiktion noch ein Weilchen am Leben zu erhalten.

Mögen sie sich alle in Acht nehmen vor Martin Suter, dem Whistleblower vom Finanzplatz Schweiz! Er hat gut recherchiert, kompetente Freunde aus dem inneren Zirkel der Krisenmanager und »too-big-to-fail«-In­sti­tu­tio­nen befragt und seine Erkenntnisse in bewährt elegantem, süffisantem Stil zu einem perfekten Ver­schwö­rungs­thril­ler gestaltet, in dessen Maschinerie alle Teile bis zum kleinsten Rädchen reibungslos in­ein­an­der­greifen.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2015 aufgenommen.


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