Der Sturm nach der Ruhe
Als Marco Molinari den Auftrag bekommt, über die Verleihung des Bolognino d’oro an Professor Bernardo Pagi zu berichten, scheint seine Welt noch ausgeglichen dahinzufließen. Er ist 33 Jahre alt und vielfältig beschäftigt, als freier Journalist in der Kulturredaktion, als Verfasser von Aufsätzen, Herausgeber von Essay-, Gedicht- und Erzählbänden, als Planer und Berater; seine publizierte Meinung findet Beachtung und Anerkennung. Dieser kleine Artikel – nicht mehr als eine Fingerübung. Denn der zu ehrende Pagi ist nicht nur Marcos früherer Universitätslehrer und Mentor.
Die beiden verbindet eine langjährige Freundschaft in einem ausgewogenen Kreis, zu dem auch die Kommilitonen Ernesto Mengoli und Lucia Malaguti gehörten. Einst traf man sich regelmäßig in Azios Bar, führte substanzielle kulturkritische Gespräche, erörterte diachron und synchron philosophische, soziologische, politische, literaturwissenschaftliche Fragestellungen, etwa zur Zeitgemäßheit des Romans als Mitteilungsmedium, jonglierte mit Aphorismen, Zitaten und Namen.
Im gleichen heiteren, scheinbar spielerisch leichten Ton sezierte man auch einander: Die Unzufriedenheit, die Lucia von der Literaturwissenschaft zur Soziologie trieb, die Gegensätzlichkeit zwischen Ernesto, dem großbürgerlich geprägten, geistreich-eleganten Parlierer, und dem zurückhaltenden Marco, dessen »talento sulla carta«« liegt: »Io sono tutto nei miei scritti.« Im gegenseitigen Austausch – zwischen Zuneigung und Bewunderung, Neid und Unverständnis, Pagis und Lucias katalytischer Präsenz und ihrer jeweils andersartigen »distanza tra scritto e parlato« – schienen sich die Persönlichkeiten zu ergänzen, zu bereichern, geradezu ineinanderzufließen. Und beide jungen Männer arbeiteten sich zu Hause an einem Romankonzept ab, stockend, oft verzweifelnd, begierig auf Pagis Urteil …
An einem einzigen schicksalhaften Tag vor fünf Jahren aber löste sich die Gemeinschaft auf. Während Marco Pagi in seinem Refugium in den Bergen aufsuchte, um mit ihm über sein Romanfragment zu sprechen, fuhr Ernesto zu der Klinik, in der sein ein Jahr älterer Bruder Davide eine schwere psychische Krise durchlitt. Unmittelbar vor der Klinik prallte Ernesto gegen einen Baum und war sofort tot. Warum er dieses Mal eine andere Zufahrtsstraße gewählt, was ihn zu den absurden Lenkbewegungen veranlasst hatte – die Ursachen konnten nie geklärt werden.
Es ist, als löse Ernestos Tod gleichzeitig zentrifugale und zentripetale Kräfte aus. Lucia verlässt Marco, mit dem sie einge Zeit zusammengelebt hatte, reist nach Brasilien und in die Ukraine, um dort über die Orangene Revolution zu promovieren; Pagi hängt seine Karriere als Universitätsprofessor an den Nagel, um freier arbeiten zu können; Marco zieht sich in einer Art Realitätsflucht in sich selbst zurück. Am Anfang seiner Ich-Erzählung charakterisiert er sich (in einer Selbstbetrachtung), als habe er sich selbst demontiert: In seinen täglichen Artikeln spiele er falsch (»barare«); seine Arbeit sei »ripulito da ogni sgradevole contatto umano«, »dietro [il tuo articolo giornaliero] è stato tolto l’audio dell’esperienza«; vor seinen Lesern habe er »l’aria di quei bambini che non vedendo credono di non essere visti.« »A forza di tagliare ponti, sei riuscito a rielaborare un passato leggendario … E quasi quasi ci credi.«
Bei Pagis Ehrung begegnen sich Marco und Lucia erstmals wieder, treffen sich dann einige Male. Marco erkennt Lucia kaum wieder, so grundlegend ist sie verändert. Eine »abgeschlossene« Krebstherapie hat sie abmagern lassen, aber hat sie sie so abweisend gemacht? Sie sagt: »Non occorre che ne parli.« Zwar registriert Marco, wie sich ihrer beider Gedanken und Themen noch immer gleichsam rhythmisch synchron zu bewegen scheinen, aber ihre Gespräche scheitern, ohne dass er den Grund dafür ermitteln kann. Ihn interessiert in erster Linie, warum sie ihn nach Ernestos Begräbnis unvermittelt und wortlos verließ. Doch sie lässt seine Fragen unbewegt an sich abperlen. Bezieht er eine ihrer Äußerungen auf sich, muss er feststellen, dass ihre Aufmerksamkeit ganz anderswohin zielt – nur wohin? Auch ihr Interesse gilt den Ereignissen und Personen von früher, aber verwirrend anders, als hätten sie beide unterschiedliche Vergangenheiten.
Marco glaubt sich in einer Patt-Situation beiderseitiger »impermeabilità«: »,Oh, certo, tu non rifiuti: lasci sfumare, piuttosto. O divaghi.‹ ›E tu non vuoi parlare di noi. Riappari, e ti rifiuti di dirmi […] perché hai tagliato i ponti.‹«
In geradezu pinteresker Weise entwickeln sich die Gespräche: Unnatürlich angespannt, beobachtet Marco Lucia, taktiert, platziert Sätze wie Schachzüge – und dringt doch nicht zu ihr durch. Während sie die Themen bestimmt, die Ziele ihrer Ausflüge vorgibt, spontan deren Route verändert, ihn mit wenigen Worten oder einer unerwarteten Frage verblüfft und verwirrt, verliert er jegliche Sicherheit. Er hebt zu Fragen, Widerspruch, wenigstens einem Kommentar an – und belässt es resignierend bei dem Vorhaben, »ipnotizzato dal decisionismo«.
In der Tat führt Lucia Marco gezielt zurück – zu den Orten, Erinnerungen und Personen, die unverarbeitete Schlüsselstellen ihrer Vergangenheit sind, wo Narben an Körper und Seele entstanden, die erst viel später sichtbar wurden. Ihr ›Verfahren‹ ist gewissermaßen sokratisch-Freudianisch.
Die Handlung dieses bemerkenswerten kleinen Psychokrimis – einer der zwölf Finalisten des Premio Strega 2013 – nimmt erst mit einiger Verzögerung Fahrt auf, nachdem die intellektuelle Landkarte aufgefaltet wurde, auf der die Hauptpersonen verortet werden bzw. sich selbst voreinander präsentieren. Das tun sie bisweilen nicht ohne Selbstgefälligkeit (und nicht ohne uns Nicht-Italienern manche harte Vokabelnuss vor die Füße zu werfen).
Doch dann steigt die Spannungskurve binnen weniger Seiten rapide an, wenn Lucia, ehe es zu spät ist, Marco aus seiner selbstgewählten Vergessenheit herausdrängt, ihn stellt, bis er selbst erkennt, wo und wann es (dem Titel gemäß) an Taten gefehlt hat.
»Atti mancati« ist ein leises, kammerspielartiges, sprachlich und intellektuell anspruchsvolles Buch, dessen Hauptgegenstand die subtilen, sich wandelnden Beziehungen zwischen den Protagonisten sind. Vergnügen beim Lesen zieht man aus der Vielschichtigkeit der Kommunikation, deren Zweck vielfach in Verhüllung, Beeinflussung, Beeindruckung besteht – und aus der zunehmend spannenden Annäherung an die Wahrheit. Diese hat eine räumliche Parallele in den vielen Spaziergängen und Fahrten durch Bologna, die Bassa der Emilia-Romagna und in die Hügel des Apennin. Hier erinnert sich unser Ich-Erzähler an jede Verkehrsampel, Umgehungsstraße, Trattoria und Kirche am Weg (Marcos und Lucias »punti d’appoggio bolognesi«).
Der Autor ist bei uns noch weitgehend unbekannt. Wie sein Protagonist und Ich-Erzähler Marco Molinari ist auch Matteo Marchesini Essayist, Dichter, Romancier und Journalist, lebt in Bologna und wurde 1979 in der Emilia Romagna geboren. »Atti mancati« ist sein erster Roman.