Rezension zu »Rath (Band 10 der Gereon-Rath-Romane)« von Volker Kutscher

Rath (Band 10 der Gereon-Rath-Romane)

von


Mit dem letzten Band führt Volker Kutscher seine Gereon-Rath-Reihe mit historischem Tiefgang und atmosphärischer Dichte weiter bis zur Reichskristallnacht 1938. Indem der Nationalsozialismus erstarkt und die deutsche Kultur einen beispiellosen Niedergang erlebt, versuchen die Protagonisten Gereon und Charlotte zu überleben und ihre Positionen zu finden. Ein fesselndes Zeitporträt.
Historischer Krimi · Piper · · 624 S. · ISBN 9783492074100
Sprache: de · Herkunft: de

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Zeitenwende

Rezension vom 27.12.2024 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Volker Kutschers höchst erfolgreiche Reihe der Gereon-Rath-Romane erreicht mit dem 10. Band ihren un­wider­ruf­lichen Abschluss. Der Autor selbst hat die rote Linie bestimmt, bis zu der er seine Kriminal­romane führen will: Es ist der 9. November 1938, die Reichs­kristall­nacht.

Die Handlung der Reihe umfasst nun nahezu ein Jahrzehnt – von 1929 bis 1938. Der erste Band schildert die Spät­phase der Weimarer Republik. Die Weltstadt Berlin durchlebt eine auf­rei­zende, gefähr­lich instabile Zeit, in der alles möglich scheint – ko­meten­hafter Aufstieg und kra­chen­der Kollaps. Während weite Teile der Bevöl­kerung täglich um ihre nackte Existenz kämpfen müssen, befinden sich andere in einem perma­nenten Rausch – künst­lerisch, unter­nehme­risch, politisch, kreativ, innovativ, gren­zen­los, tabufrei, mutig, aggressiv und rück­sichts­los, ein Tanz auf dem Vulkan mit hoch­moder­ner Technik, schrei­enden Massen­medien, be­feuern­den Ideo­logien, Straßen­schlach­ten, Kokain, ille­galen Nacht­clubs, mit­reißen­den Melo­dien, stamp­fenden Rhyth­men.

Nur neun Jahre später ist die Stadt (und mit ihr das Land) eine völlig andere geworden. Der Natio­nal­sozia­lis­mus hat sich als Ideo­logie und Macht im Alltag der Bürger einge­nistet und bestimmt ihn jetzt in allen Be­reichen, bis hinein in die Fami­lien­gefüge. Wer sich trotz all­gegen­wär­tiger Propa­ganda kritische Distanz zur alles be­herr­schen­den Gesin­nung bewahren konnte, klammert sich an die Hoffnung, sich Frei­räume bewah­ren zu können, und es werde schon nicht so schlimm werden. Dabei leiden immer mehr Mitbürger unter dem Ein­dringen der Politik in ihr sicher ge­glaub­tes Privat­leben durch Bespit­zelung und Drang­salie­rung. Immer mehr Menschen bemerken, dass in ihrem Umfeld Personen, die den Nazis miss­liebig sind, beleidigt, geächtet, ge­schla­gen, ihrer Freiheit beraubt werden, spurlos ver­schwin­den oder frei­willig alles auf­geben und über Nacht weg­ziehen.

Mit Gereon Rath, dem Protago­nisten, konn­ten wir diese Dekade in gewissem Rahmen und großer Inten­sität mit­erle­ben. Der gebür­tige Kölner zog nach Berlin, arbei­tete dort als Kri­minal­kom­mis­sar und lernte im Poli­zei­präsi­dium die Steno­typistin Charlotte (»Charly«) Ritter kennen. Die beiden ver­liebten sich inein­ander, heira­teten, nahmen einen Pflege­sohn (Fritz) zu sich und wurden beruf­lich und privat in auf­regende krimi­nelle, wirt­schaft­liche und poli­tische Machen­schaf­ten von teils natio­naler Rele­vanz ver­strickt, wäh­rend der sich ihre Wege bis­weilen trenn­ten. Dabei nahmen sie auch unter­schied­liche Hal­tun­gen zur Ent­wick­lung der deut­schen Politik ein und gerie­ten in ent­spre­chende Kon­flikte und Gefahren. Während Gereon eher un­poli­tisch ist und weder als Mit­läufer noch als Oppo­nent hervor­trat, ahnt Char­lotte mit feinem Gespür für Recht und Un­recht seit Langem, wohin die Ereig­nisse führen können, und bleibt sich in ihrer wider­ständi­schen Rolle bis zum Schluss treu. Ihre wechsel­hafte Ge­schich­te macht sie zur eigent­lichen Heldin der Reihe: Sie tut stets ihre Pflicht, weder Haft noch Folter können sie brechen, und den Schutz von höchster Stelle weiß sie klug zu nutzen, um ihre Ziele zu verfolgen.

Im neunten Band (»Trans­atlantik«) will sich Gereon Rath im Mai 1937 in die USA ab­setzen und reist mit dem legen­dären Zeppe­lin-Luft­schiff »Hinden­burg« nach New York. Als dieses bei der Ankunft in Lake­hurst in Flammen aufgeht, lässt Volker Kutscher seine Leser im Unge­wissen, ob der Prota­gonist unter den Todes­opfern oder den Über­leben­den der Katas­trophe ist.

Mit der Auflösung im nun erschie­nenen letzten Band verblüfft uns der Autor wie so oft zuvor: Einer­seits lesen wir, dass Gereon Rath für tot erklärt wird und Char­lotte eine Witwen­rente erhält. In Wahr­heit aber lebt Gereon unter fal­schem Namen in Amerika, wo sein Bruder Seve­rin, der mit amer­ika­ni­scher Staats­bürger­schaft als Jour­nalist in New York tätig ist, ihn finan­ziell unter­stützt. Als die beiden Brüder die Nach­richt erreicht, ihr Vater Engel­bert habe einen Schlag­anfall erlitten und liege im Sterben, kehren sie nach Deutsch­land zurück, obwohl sie hier um ihr Leben fürchten müssen. Während Seve­rin als Kor­res­pon­dent seiner US-Zei­tung aus der deut­schen Haupt­stadt berich­ten kann, findet Gereon zunächst Unter­schlupf bei einem Ver­trau­ten des Vaters und sucht dann Char­lotte in Berlin auf. Sie braucht Bei­stand für zwei wich­tige Anlie­gen: Sie will eine be­drängte Freun­din aus einer Klinik holen, und Fritz, noch immer treuer Hitler­junge, muss vom schwer­wiegen­den Verdacht, einen Mord began­gen zu haben, ent­lastet werden. Eine Fülle von Episo­den, Neben­hand­lungen und be­drü­cken­den Schil­de­run­gen führen uns vor Augen, wie sich die Stim­mung im Lande gegen polit­ische Gegner, Juden und andere Gruppen ver­düstert und radika­lisiert, bis sie im Novem­ber 1938 einen Tiefpunkt erreicht. Familie Rath muss sich nun auf einen Weg einigen, wie und wo sie eine gemein­same Zukunft finden und ge­stalten kann. Falls so etwas über­haupt noch rea­lisier­bar ist, müssen viele Steine aus dem Weg geräumt werden.

Wenngleich der Plot genug Verbrechen und deren Auf­klärung bereit­stellt, rückt das Genre Kri­minal­roman jetzt in den Hinter­grund. Kutschers Anliegen ist, die Atmos­phäre dieser bedroh­lichen Zeit einzu­fangen.

Sehr deutlich gestaltet der Autor die offenen und nicht so offen­sicht­lichen Mecha­nismen, mit denen sich ein Unter­drückungs­staat etab­liert: Beset­zung sämt­licher Stellen im Staats­apparat und den Medien mit zuver­lässigen Gefolgs­leuten, Kon­trolle des Rechts­systems durch willige Richter und poli­tisch ge­wünschte Urteile, durch Mani­pulation von Beweis­material, Alibis und Zeugen­aus­sagen, dazu das An­sta­cheln von Konkur­renz und Miss­trauen in der Bevöl­kerung durch Fördern von De­nun­zia­tion und Ein­bin­dung kleiner Helfer (wie Gen­darme oder Block­warte) in den großen Appa­rat durch Aus­stat­tung mit be­grenz­ten Macht­befug­nissen. Für etwas mehr Geld, eine ein­drucks­volle Uniform, einen Titel und das Recht, andere nach Gut­dünken zu tadeln oder zu strafen, ist man­chem jedes Mittel recht, und so werden aus Freun­den schnell Feinde, aus Nach­bar­schafts­hilfe Intrigen, aus soli­dari­schen Gruppen leicht be­herrsch­bare Einzel­kämpfer.

In der Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. Novem­ber 1938 fallen bei vielen indok­trinier­ten Menschen letzte Hürden bürger­lichen Anstands. Maro­die­rende Horden der SA und der Hitler­jugend, durch Uni­formen, Lieder, Parolen und Gleich­schritt zu einer Ge­mein­schaft ver­schweißt, in der jeder Ein­zelne seine indivi­duelle Ver­ant­wor­tung ab­geben kann, zünden Syna­gogen an, zer­trümmern jüdi­sche Geschäfte, plündern Woh­nungen, dreschen auf jeden ein, der sich zur Wehr setzt, ver­letzen und töten mitleid­los mit Prügeln und Eisen­stangen. Wer könnte sie noch auf­halten? »Der höchste Akt des Wider­standes war es, den Blick scham­haft abzu­wenden und vorüber­zu­gehen«, schreibt Kutscher auf den letzten Seiten seines Romans, die die ver­heeren­den Ereig­nisse jener Nacht schildern. Für ihn bedeuten sie das Ende der Zivili­sation und die Ein­leitung des orga­nisier­ten Massen­mordes an den Juden – eine Grenze, die er als Schrift­steller nicht zu über­schrei­ten vermag.

Volker Kutscher ist es gelungen, das Wachsen des Na­tio­nal­sozia­lis­mus und die Fas­zina­tion vieler Bürger für diese Ideo­logie ergrei­fend darzu­stellen und den­noch erzähle­rische Distanz zu wahren. Inten­sive Recher­chen erlauben es ihm, uns den Alltag leben­dig und bild­stark zu schildern. Detail­reiche Beschrei­bungen von Waren, Verkehrs­mitteln, Woh­nungs­ein­rich­tungen, Ver­haltens­weisen, dazu zeit­typi­sche, oft amü­sante Redens­arten und perfekt trans­skribier­te Dialekte spulen in unserem Kopf­kino einen mit­rei­ßenden Film ab. Neben Repräsen­tanten vieler Hal­tungen zur Regie­rungs­politik – Mit­läufer und Skep­tische, ent­schie­dene Gegner und ju­beln­de Anhän­ger, Opfer und Profi­teure – treten immer wieder promi­nente Persön­lich­keiten auf, wo­durch die privaten Hand­lungen der Charak­tere in den großen ge­schicht­lichen Rahmen einge­ordnet werden, so wie es der ambi­tio­nier­ten Inten­tion des Autors ent­spricht.

Zur Illustration der erzählerischen Methode sei nur ein Beispiel von vielen vorge­stellt. Während seiner Tätig­keit als Regie­rungs­rat im Kölner Poli­zei­präsi­dium hatte Gereons Vater viel mit Konrad Ade­nauer, dem dama­ligen Ober­bürger­meister der Stadt, zu tun, woraus sich eine enge Freund­schaft ent­wi­ckel­te. Nachdem die Natio­nal­sozia­listen Ade­nauer 1933 all seiner Ämter ent­hoben, konnte er sich in seinem Haus in Rhön­dorf inten­siver seinem Stecken­pferd widmen: dem Erfinden techni­scher Geräte. Hier kommt Gereon Rath als Chauffeur unter, als er aus den USA zum Kranken­bett des Vaters eilt. Diese Hand­lungs­füh­rung gibt Kutscher nun Gelegen­heit, uns nicht nur mit den laut Gereon Rath »spin­ner­ten Ideen« des alten Mannes zu unter­halten (ein »elektri­scher In­sekten­töter«, eine »von innen be­leuch­tete Stopf­kugel«), sondern auch mit seinem Charakter und seinem markanten Dialekt (»et funk­tio­niert … die mache kinne Mucks mie!«). Wie neben­bei findet Welt­politik statt: »Dä Schäm­ber­lähn. Dä muss doch zum Führer. Lesen Se denn king Zeidung?«, tadelt Ade­nauer seinen Fahrer, als sie am 22. Sep­tem­ber 1938 am Fähr­anleger am Rhein warten müssen. Denn gerade ist der briti­sche Premier­minister Neville Chamber­laine auf dem Weg nach Bad Godes­berg, wo er Adolf Hitler treffen und in seinen terri­toria­len Am­bitio­nen be­schwich­tigen will.

Mir imponiert erneut, wie es Volker Kutscher gelingt, in seiner unter­halt­samen Fiktion ein seriöses, diffe­ren­ziertes Ge­sell­schafts- und Ge­schichts­bild zu zeichnen, das den Lesern die Augen zu öffnen vermag für Ent­wick­lun­gen, die jeder­zeit und überall wieder keimen können, wenn skrupel­lose Persön­lich­keiten mensch­liche Schwächen geschickt aus­nutzen. Nichts ist ein­facher, als über das Dritte Reich Em­pö­rungs­litera­tur zu produ­zieren, denn einfach zu identi­fizie­rende Übel­täter, Misse­taten und unsäg­liche Ver­brechen springen massen­haft ins Auge. Doch nichts ist primi­tiver, nichts ist kontra­produk­tiver als simples Verur­teilen und Zur­schau­stellen des Bösen von oben herab, aus mora­lisch er­habe­ner Sicht.. So etwas klärt nicht auf, sondern verhin­dert die Aus­ein­ander­setzung mit der Ver­gangen­heit nicht anders als die Wieder­bele­bung alter Propa­ganda­phrasen, die Ver­tuschung und Ver­drän­gung des Bösen und der leicht­fertige Umgang mit dem Etikett »Nazi« in unse­ren Tagen. In Kutschers Romanen können wir dank meister­licher Gestal­tung selber lesen, sehen, hören und erkennen, wie sich eine Kata­strophe ent­wickeln konnte.


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