Rezension zu »Die Akte Vaterland« von Volker Kutscher

Die Akte Vaterland

von


Historischer Kriminalroman · Kiepenheuer & Witsch · · Gebunden · 576 S. · ISBN 9783462044669
Sprache: de · Herkunft: de

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Tödliches Gift in Berlin

Rezension vom 13.12.2012 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Berlin 1932: Ein Ertrunkener in einem Lastenaufzug, ein deutscher Neger im Cowboykostüm, ein Indianer in Masuren? All das klingt doch hanebüchen. Bei Volker Kutscher kann man aber sicher sein, dass jedes kleinste Detail sich als für den Handlungsverlauf unerlässlich erweist. Nur aufblähendes Beiwerk gibt es bei ihm nicht. Langsam und ruhig entwickelt der Autor seinen vierten Kriminalfall, und die Spannung knistert. Im Einsatz ist das Berliner Kommissariat in der "Burg" am Alexanderplatz, unter der Leitung von Ernst Gennat, genannt der "Buddha". Seine Mitarbeiter sind der Rheinländer Gereon Rath, dessen Freundin Charlotte Ritter, Dr. Karthaus, der hagere Pathologe im weißen Kittel, der mit seinem Horch immer schneller am Tatort ist als die Kollegen im "Mordauto", und etliche andere. Noch tanzt Berlin, die Kommunisten prügeln sich mit den Nazis, und von Papen regiert als Reichskanzler.

Der erste Ortstermin führt uns ins Haus Vaterland, einen gigantischen Vergnügungspalast mit diversen Spezialitätenrestaurants, Tanzlokalen samt Varietéprogrammen und den legendären "Rheinterrassen", wo stündlich Regengüsse samt Donner und Blitz niedergehen. Jeder kennt den (holprigen) Werbespruch "Im Haus Vaterland isst man gründlich, hier gewitterts stündlich."

Pathologe Dr. Karthaus obduziert die Wasserleiche, die mit einer Curare-Giftspritze getötet wurde, bevor Wasser in ihre Lunge eindrang. Warum wurde dieser Tote im Lastenaufzug von Haus Vaterland abgelegt? Was hat der Mord mit dem Korn "Mathée Luisenbrand" zu tun, der im masurischen Treuburg hergestellt wird? Bald müssen weitere Männer an Curare sterben – und alle haben zehn Jahre zuvor in Treuburg gelebt. Daher fliegt Rath mit einer Junkers G 31 nach Königsberg. Dort wird er von Kriminalassistent Kowalski, fortan sein ständiger Begleiter, in einem schwarzen Wanderer W 10 abgeholt.

Die Treuburger erweisen sich als verstockt und nicht besonders auskunftsfreudig. Ein dunkles Geheimnis samt Verbrechen lastet über der Kleinstadt, und offenbar gibt es jemanden, der hier uneingeschränkt das Sagen hat.

Lehrer Rammoser und eine Bibliothekarin können Rath hinsichtlich Treuburgs Vergangenheit ein wenig auf die Sprünge helfen: Da prügelte vor Jahren ein Schlägertrupp alles nieder, was polnisch oder katholisch war. Von großer Bedeutung waren auch die professionellen Schwarzbrenner. Und dann war einmal ein Junge, der nicht mehr unter den Menschen leben wollte, in die Wälder geflohen. Seit Jahren hat ihn niemand mehr gesehen, selbst seinen Namen hat man vergessen. Aber man muss sich vor ihm in Acht nehmen, denn er schleicht in Mokassins aus Elchleder mit blitzenden Augen wie ein Raubtier durchs dunkle Moor und verteidigt sein Reich mit Pfeil und Bogen …

Volker Kutschers Schmöker, den man nach ein paar Seiten nicht mehr aus der Hand legen kann, besticht durch eine perfekte, intelligente Mischung aus phantasievollen Krimi-Ideen, interessanten Charakteren, über deren Hintergrund man unbedingt mehr erfahren möchte, und der Bühne der Dreißiger Jahre samt zeittypischem Inventar: Die Ampel am Potsdamer Platz steuert ein Schupo von einem Turm aus per Hand; wo man sitzt und steht, wird Overstolz, Muratti und dergleichen geraucht; die Leute essen Schrippen, Kümmelfleisch, Buttermilchflinsen und trinken "eine Molle vorm Dienst" und einen "Pillkaller zum Abschluss – hilft beim Verdauen" … Berlin ist eine pulsierende Weltstadt mit Schnauze!

Reizvoll ist der Gegensatz zum abgeschiedenen Städtchen Trauburg im fernen Masuren. Dort wäscht eine Hand die andere, und wer sich in das Gefüge nicht einordnen will, wird eines Besseren belehrt. Da wagt man es sogar, den Kommissar Gereon Rath bewusst in die Moore zu leiten, wo er auf Nimmerwiedersehen versinken und keinen Schaden mehr anrichten möge – Hauptsache, die alte Ordnung ist bewahrt.

Die politischen Ereignisse, die sich in Berlin am Ende der Weimarer Republik überschlagen, setzt Kutscher an Hand zahlreicher gut recherchierter Details anschaulich und lebendig in Szene. Beispielsweise hat es Bayume Mohamed Husen, den Neger aus Daressalam, der wie viele andere Männer aus den deutschen Kolonien "im Krieg für Kaiser und Vaterland gekämpft" hatte, tatsächlich gegeben. Aber Kutscher fügt die historischen Abläufe dramaturgisch zurückhaltend ein, denn im Vordergrund steht sein Krimiplot. So schickt der Autor seinen Protagonisten Gereon Rath in die masurische Walachei, während in der Hauptstadt im sogenannten "Preußenschlag" die preußische Landesregierung abgesetzt wird und somit Preußen, die letzte demokratische Bastion, vom Reich kontrolliert werden kann. Das Berliner Kommissariat wird Zeuge, wie man den Polizeipräsidenten und seinen Stellvertreter, den Juden Bernhard Weiß, abführt. Am 31. Juli 1932 sind Reichstagswahlen, die NSDAP wird stärkste Kraft im Parlament, und im Gegensatz zu Rath und seinen Kollegen wissen wir, was sich daraus entwickeln wird …

Zu viel Raum widmet Volker Kutscher dem unentschlossenen Hin und Her in der privaten Beziehung zwischen Gereon Rath und seiner Verlobten Charlotte; es ist weder für die Handlung noch das Zeitkolorit relevant, und selbst als Beitrag zu Raths Charakterisierung wirkt es arg in die Länge gezogen.

Trotzdem ist "Die Akte Vaterland" eine Bergspitze, die aus den bisweilen wabernden Nebeln des Krimi-Genres als echtes Highlight herausragt.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2012 aufgenommen.


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