Rezension zu »Die zerbrechliche Zeit« von Donatella Di Pietrantonio

Die zerbrechliche Zeit

von


Lucias Leben ist seit jeher geprägt von Fremdbestimmung und Instabilität: Ein dominanter Vater und sein gescheitertes Projekt, ein Verbrechen, der misslungene Versuch ihrer Tochter, in die Ferne auszubrechen, zerbrochene Beziehungen zu ihrem Ehemann und einer Freundin belasten ihren Alltag. Trotz aller Tragik erzählt dieses leise, atmosphärische Werk von innerer Stärke und Menschlichkeit.
Belletristik · Kunstmann · · 238 S. · ISBN 9783956146213
Sprache: de · Herkunft: id · Region: Süditalien

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Festhalten und Loslassen

Rezension vom 15.01.2025 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Donatella Di Pietrantonio versetzt uns in ihrem aktuellen Roman wieder in ein abge­legenes Berg­dorf in den Abruzzen. In dieser rauen, als rück­stän­dig und vernach­lässigt geltenden Land­schaft spielte schon ihr großer Erfolg »L’arminuta« (2017) [› Rezension], der mit dem Premio Campiello ausge­zeich­net und 2021 verfilmt wurde. Die wieder­holte Wahl der Gegend als Schau­platz kommt nicht von ungefähr. Die Autorin wurde 1963 selbst in einer 750-Seelen-Gemeinde in der Provinz Teramo nahe des Gran Sasso geboren und ver­brachte dort ihre Kindheit bis zum neunten Lebens­jahr. (Heute arbeitet sie als Kinder­zahn­ärztin in ihrer Heimat­region.)

Originalausgabe:
»"L’età fragile«
(2024, Verlag Einaudi)
Donatella di Pietrantonio: »L’età fragile« auf Bücher Rezensionen
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»L’età fragile«, das neue Buch dieser Schrift­stellerin, wählten im Juni 2024 Schüle­rinnen und Schüler aus mehr als 100 Schulen als Gewinner des Premio Strega Giovani aus, und wenig später vergab auch die 400-köpfige Jury des Premio Strega den wohl renom­miertes­ten italie­nischen Lite­ratur­preis an diesen Roman. Jetzt legt der Kunstmann-Verlag ihn in der Über­setzung von Maja Pflug unter dem Titel »Die zer­brech­liche Zeit« vor.

Es ist ein vielschichtiges, berührendes Werk, in dessen Mittel­punkt eine Mutter und ihre Tochter stehen. Lucia, die ungefähr vierzig­jährige Ich-Erzäh­lerin, ist Physio­thera­peutin in einem kleinen Ort, wo Armut und Ein­fach­heit das Leben der Bewohner prägen. Der markan­teste Punkt der Umge­bung ist die Fels­forma­tion des Dente del Lupo (»Wolfs­zahn«), um den herum die Schafe grasen.

Nie hat es Lucia geschafft, hier wegzukommen und ein anderes Leben zu führen, auch nicht nach dem Tod ihrer geliebten Mutter Concetta. Die war »eine uner­müd­liche Arbei­terin«, die »krank werden musste, um sich auszu­ruhen«. Ihr Vater, der den alten Hof auf halber Strecke zwischen Dorf und Berg bewohnt und dem ein Großteil des Landes gehört, bestimmt nach wie vor Lucias Alltag wie ein Patriarch. Er hatte sich von Concetta einen Sohn, von Lucia einen Enkel gewünscht und war beide Male ent­täuscht worden. So lebt Lucia jetzt, seit ihre Tochter Amanda im Norden studiert und Dario, ihr Ehemann, sie verlassen hat, in emotio­naler Einsam­keit und überdies belastet durch ein unbe­wältigtes Schuld­gefühl aus der Ver­gangen­heit.

Oben auf dem Dente del Lupo liegt ein Stück des väter­lichen Waldes und ein verlas­sener, herunt­erge­kom­mener Camping­platz mit Pool und einem seit Jahren nicht mehr betrie­benen Kiosk. Einst hatte das Projekt Touristen und Auf­schwung in diese Ödnis gebracht – ein viel­ver­spre­chen­des Erbe, das der Vater noch zu seinen Leb­zeiten an Lucia über­schreiben will. Doch Lucia will es nicht haben.

Als sie etwa zwanzig Jahre alt war, geschah in dieser Gegend ein Gewalt­ver­brechen. Die Tat und der nach­folgende Prozess erregten großes Aufsehen in der Öffent­lich­keit, und kein Tourist wollte hier noch sein Zelt auf­schla­gen. Während sich die Natur den Platz zurück­holte, türmten sich die Schulden der ur­sprüng­lichen Pächter weiter auf.

Nicht nur die Meinungs­ver­schie­den­heiten und Aus­ein­ander­setzun­gen mit ihrem Vater belasten Lucia, sondern auch die Sorgen um ihre Ehe und um ihre Tochter. Als Amanda den Wunsch äußerte, ein Studium in Mailand zu beginnen, ermutigte sie sie dazu und unter­stützte sie beim Umzug. Schon nach einigen Monaten kehrte Amanda unver­sehens wieder nach Hause zurück. Lucia erkennt ihre stark verän­derte, abge­magerte, »er­losche­ne« Tochter kaum wieder. Amanda schließt sich in ihrem Zimmer ein, schläft tagsüber, geht Ge­sprä­chen aus dem Weg. Lucias Gedanken kreisen ständig um die seelische Not ihrer Tochter. Ist wirklich die Pandemie die Ursache für ihren Studien­ab­bruch – die ge­schlos­se­nen Hör­säle, das Kontakt­verbot zu anderen Studie­renden? Oder steckt hinter ihrer Ablehnung jeglichen Kontaktes mit der Umwelt ein schwer­wie­gendes persön­liches Erlebnis?

Aus Lucias Erzähl­perspek­tive lernen wir mehrere Lebens­phasen der Protago­nistin kennen. Als heran­wach­sende Tochter muss sie auf dem elter­lichen Hof kräftig mithelfen. In ihrer Freizeit trifft sie sich mit Doralice, ihrer besten Freundin. Deren Eltern pachten, nachdem der Cam­ping­platz gebaut wurde, den Kiosk dort, und er ent­wickelt sich bald zum neuen Treff­punkt für Alt und Jung. Auch die beiden Mädchen finden dort Ab­wechs­lung und Spass mit Urlaubern. Doch ein Ver­brechen ändert alles und beendet abrupt die sorglose Jugend. Nach und nach erfahren wir dessen Einzel­heiten: Zwei junge Campe­rinnen möchten am letzten Abend ihres Urlaubs eine Nacht­wande­rung unter­nehmen. Obwohl Doralice sie führt, verlaufen sich die drei in der unweg­samen Waldregion unter dem Dente del Lupo. Die beiden Touris­tinnen werden verge­waltigt und umge­bracht. Die Suche nach den Opfern und dem Täter, dessen Festnahme und der Prozess gegen ihn nehmen einen großen Teil der Erzählung ein.

Literarisch überzeugend und psycho­logisch einfühl­sam schildert Donatella Di Pietran­tonio, wie sich Lucias Lage kom­pliziert und zuspitzt und wie ihre Gefühle sie aufwühlen. Nicht nur Doralices, sondern auch ihr eigenes Verhalten wirft ge­wich­tige mora­lische Fragen auf, die Lucia auch nach vielen Jahren nicht ver­drängen kann. In der Jetztzeit stürzen nun alle Probleme – die der Ver­gange­nheit und die aktuellen – auf Lucia ein.

Ein letzter Handlungsteil spitzt den Konflikt mit dem Vater zu. Ein Investor tritt auf den Plan, will den ver­rot­ten­den Cam­ping­platz kaufen und wieder erblühen lassen. Der Vater drängt Lucia, sich zu kümmern und sein Her­zens­anliegen umzu­setzen: Sie soll endlich das Erbe annehmen, den Verkauf organi­sieren und die Einnahmen daraus Osvaldo, dem Pächter und guten Freund des Vaters, zukommen lassen, damit er seine Schulden tilgen kann. Doch das Projekt stößt auf Wider­stand. Nicht nur die alt­ein­ge­sesse­nen Dorf­be­wohner sträuben sich, sondern sogar Amanda verlässt ihr dunkles Schne­cken­haus, um dagegen vorzu­gehen.

Wie schon »Arminuta«, beweist auch »Die zer­brech­liche Zeit«, dass Donatella Di Pietran­tonio eine heraus­ragende Erzäh­lerin ist. Statt durch Aufsehen erregende Plots bestechen die beiden Romane durch stille Innen­be­trach­tungen ge­bro­chener Seelen, kunstvoll mit­ein­ander ver­floch­tene Erzähl­stränge und die nach­haltig be­ein­dru­ckende Atmos­phäre des harten Lebens der Bauern und einsamen Hirten in einer unwirt­lichen, abge­schie­denen Region. Im Einklang mit ihren Themen pflegt die Autorin einen eigen­stän­digen, zurück­halten­den Stil.


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