
Die zerbrechliche Zeit
von Donatella Di Pietrantonio
Lucias Leben ist seit jeher geprägt von Fremdbestimmung und Instabilität: Ein dominanter Vater und sein gescheitertes Projekt, ein Verbrechen, der misslungene Versuch ihrer Tochter, in die Ferne auszubrechen, zerbrochene Beziehungen zu ihrem Ehemann und einer Freundin belasten ihren Alltag. Trotz aller Tragik erzählt dieses leise, atmosphärische Werk von innerer Stärke und Menschlichkeit.
Festhalten und Loslassen
Donatella Di Pietrantonio versetzt uns in ihrem aktuellen Roman wieder in ein abgelegenes Bergdorf in den Abruzzen. In dieser rauen, als rückständig und vernachlässigt geltenden Landschaft spielte schon ihr großer Erfolg »L’arminuta« (2017) [› Rezension], der mit dem Premio Campiello ausgezeichnet und 2021 verfilmt wurde. Die wiederholte Wahl der Gegend als Schauplatz kommt nicht von ungefähr. Die Autorin wurde 1963 selbst in einer 750-Seelen-Gemeinde in der Provinz Teramo nahe des Gran Sasso geboren und verbrachte dort ihre Kindheit bis zum neunten Lebensjahr. (Heute arbeitet sie als Kinderzahnärztin in ihrer Heimatregion.)
»L’età fragile«, das neue Buch dieser Schriftstellerin, wählten im Juni 2024 Schülerinnen und Schüler aus mehr als 100 Schulen als Gewinner des Premio Strega Giovani aus, und wenig später vergab auch die 400-köpfige Jury des Premio Strega den wohl renommiertesten italienischen Literaturpreis an diesen Roman. Jetzt legt der Kunstmann-Verlag ihn in der Übersetzung von Maja Pflug unter dem Titel »Die zerbrechliche Zeit« vor.
Es ist ein vielschichtiges, berührendes Werk, in dessen Mittelpunkt eine Mutter und ihre Tochter stehen. Lucia, die ungefähr vierzigjährige Ich-Erzählerin, ist Physiotherapeutin in einem kleinen Ort, wo Armut und Einfachheit das Leben der Bewohner prägen. Der markanteste Punkt der Umgebung ist die Felsformation des Dente del Lupo (»Wolfszahn«), um den herum die Schafe grasen.
Nie hat es Lucia geschafft, hier wegzukommen und ein anderes Leben zu führen, auch nicht nach dem Tod ihrer geliebten Mutter Concetta. Die war »eine unermüdliche Arbeiterin«, die »krank werden musste, um sich auszuruhen«. Ihr Vater, der den alten Hof auf halber Strecke zwischen Dorf und Berg bewohnt und dem ein Großteil des Landes gehört, bestimmt nach wie vor Lucias Alltag wie ein Patriarch. Er hatte sich von Concetta einen Sohn, von Lucia einen Enkel gewünscht und war beide Male enttäuscht worden. So lebt Lucia jetzt, seit ihre Tochter Amanda im Norden studiert und Dario, ihr Ehemann, sie verlassen hat, in emotionaler Einsamkeit und überdies belastet durch ein unbewältigtes Schuldgefühl aus der Vergangenheit.
Oben auf dem Dente del Lupo liegt ein Stück des väterlichen Waldes und ein verlassener, heruntergekommener Campingplatz mit Pool und einem seit Jahren nicht mehr betriebenen Kiosk. Einst hatte das Projekt Touristen und Aufschwung in diese Ödnis gebracht – ein vielversprechendes Erbe, das der Vater noch zu seinen Lebzeiten an Lucia überschreiben will. Doch Lucia will es nicht haben.
Als sie etwa zwanzig Jahre alt war, geschah in dieser Gegend ein Gewaltverbrechen. Die Tat und der nachfolgende Prozess erregten großes Aufsehen in der Öffentlichkeit, und kein Tourist wollte hier noch sein Zelt aufschlagen. Während sich die Natur den Platz zurückholte, türmten sich die Schulden der ursprünglichen Pächter weiter auf.
Nicht nur die Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen mit ihrem Vater belasten Lucia, sondern auch die Sorgen um ihre Ehe und um ihre Tochter. Als Amanda den Wunsch äußerte, ein Studium in Mailand zu beginnen, ermutigte sie sie dazu und unterstützte sie beim Umzug. Schon nach einigen Monaten kehrte Amanda unversehens wieder nach Hause zurück. Lucia erkennt ihre stark veränderte, abgemagerte, »erloschene« Tochter kaum wieder. Amanda schließt sich in ihrem Zimmer ein, schläft tagsüber, geht Gesprächen aus dem Weg. Lucias Gedanken kreisen ständig um die seelische Not ihrer Tochter. Ist wirklich die Pandemie die Ursache für ihren Studienabbruch – die geschlossenen Hörsäle, das Kontaktverbot zu anderen Studierenden? Oder steckt hinter ihrer Ablehnung jeglichen Kontaktes mit der Umwelt ein schwerwiegendes persönliches Erlebnis?
Aus Lucias Erzählperspektive lernen wir mehrere Lebensphasen der Protagonistin kennen. Als heranwachsende Tochter muss sie auf dem elterlichen Hof kräftig mithelfen. In ihrer Freizeit trifft sie sich mit Doralice, ihrer besten Freundin. Deren Eltern pachten, nachdem der Campingplatz gebaut wurde, den Kiosk dort, und er entwickelt sich bald zum neuen Treffpunkt für Alt und Jung. Auch die beiden Mädchen finden dort Abwechslung und Spass mit Urlaubern. Doch ein Verbrechen ändert alles und beendet abrupt die sorglose Jugend. Nach und nach erfahren wir dessen Einzelheiten: Zwei junge Camperinnen möchten am letzten Abend ihres Urlaubs eine Nachtwanderung unternehmen. Obwohl Doralice sie führt, verlaufen sich die drei in der unwegsamen Waldregion unter dem Dente del Lupo. Die beiden Touristinnen werden vergewaltigt und umgebracht. Die Suche nach den Opfern und dem Täter, dessen Festnahme und der Prozess gegen ihn nehmen einen großen Teil der Erzählung ein.
Literarisch überzeugend und psychologisch einfühlsam schildert Donatella Di Pietrantonio, wie sich Lucias Lage kompliziert und zuspitzt und wie ihre Gefühle sie aufwühlen. Nicht nur Doralices, sondern auch ihr eigenes Verhalten wirft gewichtige moralische Fragen auf, die Lucia auch nach vielen Jahren nicht verdrängen kann. In der Jetztzeit stürzen nun alle Probleme – die der Vergangenheit und die aktuellen – auf Lucia ein.
Ein letzter Handlungsteil spitzt den Konflikt mit dem Vater zu. Ein Investor tritt auf den Plan, will den verrottenden Campingplatz kaufen und wieder erblühen lassen. Der Vater drängt Lucia, sich zu kümmern und sein Herzensanliegen umzusetzen: Sie soll endlich das Erbe annehmen, den Verkauf organisieren und die Einnahmen daraus Osvaldo, dem Pächter und guten Freund des Vaters, zukommen lassen, damit er seine Schulden tilgen kann. Doch das Projekt stößt auf Widerstand. Nicht nur die alteingesessenen Dorfbewohner sträuben sich, sondern sogar Amanda verlässt ihr dunkles Schneckenhaus, um dagegen vorzugehen.
Wie schon »Arminuta«, beweist auch »Die zerbrechliche Zeit«, dass Donatella Di Pietrantonio eine herausragende Erzählerin ist. Statt durch Aufsehen erregende Plots bestechen die beiden Romane durch stille Innenbetrachtungen gebrochener Seelen, kunstvoll miteinander verflochtene Erzählstränge und die nachhaltig beeindruckende Atmosphäre des harten Lebens der Bauern und einsamen Hirten in einer unwirtlichen, abgeschiedenen Region. Im Einklang mit ihren Themen pflegt die Autorin einen eigenständigen, zurückhaltenden Stil.