L’accabadora
von Enrico Pau
Eine Sardin versucht sich aus der ihr zugefallenen archaischen Rolle als eine Art Todesengel zu befreien.
Düstere Rätsel
Der Titel dieses Films ist nahezu identisch mit dem eines Buches, das gleich bei seinem Erscheinen im Jahr 2009 Aufsehen erregte, im Jahr darauf den Premio Campiello erhielt und in viele Sprachen übersetzt wurde: »Accabadora«, geschrieben von der sardischen Autorin Michela Murgia [› Rezension]. Man könnte also leicht annehmen, der Film orientiere sich an diesem Bestseller. Das wäre aber ein Trugschluss, und man wäre beim Ansehen des Films ziemlich sicher enttäuscht.
Das Beste an Enrico Paus Werk ist seine Filmsprache. Er präsentiert wunderschöne Bilder, deren Aufbau, Ruhe, Licht- und Farbgestaltung geradezu an klassische Gemälde erinnern. Die Kamera ist weitgehend statisch, Stimmung und Atmosphäre verändern sich kaum, und es ist die Stille, die uns anspricht. Pau setzt mehr auf die geheimnisvollen, mysteriösen Aspekte seiner zentralen Figur, die als eine Art Todesengel unheilbar leidende Mitmenschen zu erlösen bereit ist, wenn man sie darum bittet – eine tief in der sardischen Kultur verwurzelte, faszinierende Figur, die im Zentrum zahlreicher gravierender Widersprüche zwischen Christentum und heidnischem Aberglauben, Menschlichkeit und Recht, Archaik und Moderne, Nächstenliebe und Gewalt leben muss. (Manche behaupten, solche Frauen habe es bis Mitte des 20. Jahrhunderts tatsächlich als eine Art Geheiminstitution gegeben. Viele Anthropologen bestreiten das allerdings.)
Während Michela Murgias Roman die problematische Rolle dieser Frauen einschließlich all der Konflikte, die aus ihrer Tätigkeit erwachsen, differenziert und überdies aus reizvoller Perspektive darstellt, konzentriert sich Enrico Pau auf einen Abschnitt im privaten Leben einer solchen Frau. Das Thema des Films ist damit enger, die Handlung bleibt im Wesentlichen einsinnig, und statt Spannung zu erzeugen setzt der Film auf immer gleiche Andeutungen und verströmt eine Aura von Traurigkeit und Geheimnis. Dazu passt, dass die etwa vierzigjährige, meist schwarz gewandete Protagonistin im gesamten Film nur einen einzigen Gesichtsausdruck vorweist, was wohl die Last der Aufgabe spiegeln soll, die sie sich keineswegs erwählt hat.
Die Handlung trägt sich im Frühjahr 1943 zu. Annetta hat ihr Heimatdorf verlassen, um in Cagliari nach Tecla, der Tochter ihrer soeben verstorbenen Schwester zu suchen. Sie kommt als Haushälterin bei einer reichen Familie unter, die sich auf ihr Landgut zurückzieht, da die massiven Bombardierungen der Alliierten die Stadt in Schutt und Asche legen. Während Annetta die Nichte sucht, findet und ihr Hilfe anbietet, erfahren wir in vielen Rückblenden die Vorgeschichte. Schon Annettas Mutter übte im Verborgenen die Tätigkeit einer Accabadora aus und führte das Kind behutsam in die uralten Gepflogenheiten dieser Aufgabe ein. Seither trägt Annetta schwer an ihrer Bestimmung eines einsamen Lebens in ständiger Nähe des Todes, kann sie aber nicht abschütteln. Durch Zufall kam die junge Tecla hinter das Geheimnis und brach die Beziehung zur Tante entsetzt ab.
In Cagliari bemüht sich Annetta darum, Teclas Vertrauen zu gewinnen und ihr eine ehrbare Lebensführung zu ermöglichen, doch sie kann deren abweisende Haltung nicht überwinden. Die Begegnung mit einem jungen Arzt verspricht schließlich eine Wendung in ihrem tristen Leben.
Trotz der genannten Schwächen ist der Film sehenswert, zumal er die zeitlose Atmosphäre sardischen Landlebens gut einfängt und die archaische Tätigkeit der Titelfigur aus gebührender Distanz beschreibt. Leider erschwert die Tonqualität uns Nicht-Italienern und Nicht-Sarden das Verständnis des Films. Es wird viel geflüstert, bisweilen auch genuschelt.)
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