
Bei Licht ist alles zerbrechlich
von Gianni Solla
Davide, 12, ist Schweinehirt. Seine Familie und sein süditalienisches Dorf lassen ihm keine Chance auf Anerkennung, Bildung und Aufstieg. Die bewunderte Teresa und Nicolas aus Neapel eröffnen ihm zwar einen Blick in andere Welten, aber die politische Lage im Jahr 1942 belastet selbst kindliches Zusammenleben. Doch dank der Inspirationen der Freunde und der Kraft der Sprache findet Davide seinen Weg.
Der Schweinehirt und die Kraft des gestalteten Wortes
Anders als es sein Familienname erhoffen lässt (»Buonasorta«, dt. »Glück«), versprechen die Lebensumstände unseres ungefähr zwölfjährigen Ich-Erzählers wenig Gutes. Davide wohnt mit seinen Eltern und der drei Jahre jüngeren Schwester Rosetta in einem abgelegenen süditalienischen Bergdorf zwischen Monte Cassino und Caserta. Rosetta darf die Grundschule besuchen, Davide nicht. Wozu auch? Für das Dasein eines Schweinehirten reicht es nach Ansicht seines Vaters Fortunato (»der Glückliche«) voll aus, wenn er seine paar Tiere zusammenzählen kann. Dies ist denn auch die Aufgabe, die Fortunato für seinen Sohn bestimmt hat. Vom Lernen hält er schon aus Prinzip nichts – auch er und seine Frau haben nie lesen und schreiben gelernt –, und ohnehin ist Davide wegen seiner angeborenen Gehbehinderung zu nichts nutze. Schlimmer noch: Dieser Sohn, »der sich hinkebeinig durchs Dorf bewegte, war zu seiner Schande geworden.« In seinem Jähzorn behandelt ihn der Vater oft schlechter als die Schweine.
Davide führt ein einsames Leben. Auch die gleichaltrigen Dorfjungen haben nichts als Schmährufe für ihn übrig. Seine einzigen Bezugswesen sind die Schweine, bei denen auch sein Schlafplatz ist. Stets verdreckt und nach Schweinestall stinkend muss er sich als Einzelgänger durchschlagen. Doch trotz allem sind sein Verstand und seine Sensibilität keineswegs abgestumpft. Er fühlt sich hingezogen zu der ein Jahr älteren Teresa. Als Tochter des Seilers gehört sie zu den besseren Kreisen. Sie erledigt schon die Bürotätigkeiten für ihren Vater und hat sich große Ziele im Leben gesteckt: Als erstes will sie so schnell wie möglich weg aus der ärmlichen Landbauerngegend. Ihr Allgemeinwissen und ihre Persönlichkeit üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Davide aus. Sie bringt ihm ein bisschen Lesen und Schreiben bei, bis ihr Vater dem Schweinehirten den Zutritt zur Seilerei verbietet.
Seit zwei Jahrzehnten regiert ein starker Mann das Land, Benito Mussolini, der »Duce«. Inzwischen befindet man sich im Krieg. Vater Fortunato ist Mitglied der Faschistischen Partei, aber Davide weiß nicht viel über solche Dinge, wie zum Beispiel die geheime Namensliste, die im Büro des Bürgermeisters liegen soll. Es geht um Juden, die aus anderen Gegenden zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft vertrieben wurden, die aber kein Dorf aufnehmen will. Die allgegenwärtige Propaganda zur systematischen Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft tut ihre Wirkung.
Als eines Tages eine Gruppe Juden aus Neapel eintrifft, ist Davide auf den ersten Blick von dem gleichaltrigen Nicolas eingenommen. Seine Schönheit und Zerbrechlichkeit, die feine Kleidung und das selbstsichere Auftreten des Jungen, der mit seinem Vater angekommen ist, begeistern ihn, und er sucht die Freundschaft mit dem Fremden. Doch die ist in diesen Zeiten unmöglich. Nicht nur Vater Fortunato, sondern auch die Dorfgemeinschaft einschließlich der Jugendlichen lehnen die Neuankömmlinge vehement ab.
Davide gerät in Konstellationen, die er nicht lösen kann. Er freut sich, dass Nicolas Vater in aller Heimlichkeit Teresas Lese- und Schreibunterricht fortführt, muss aber Ärger mit seinem Vater fürchten, sollte der dahinterkommen. Eines Tages bietet sich ihm eine Gelegenheit, endlich in den Kreis der Dorfjugend aufgenommen zu werden, doch der Preis ist hoch. Als Fortunato vom Umgang seines Sohnes mit den Juden erfährt, reagiert er mit ungeheurer Brutalität, und das lange schwelende Zerwürfnis mit seiner Familie bricht sich endgültig Bahn. Zwar erledigt Davide weiterhin folgsam alle Aufgaben, doch Halt kann ihm nun einzig die Nähe zu Teresa geben. Gemeinsam mit ihr und Nicolas streift er durch Feld und Flur, bis sich neue schmerzvolle Konflikte ergeben. Auch der zu Ende gehende Krieg mit dem Sturz Mussolinis und dem letzten Aufbäumen der Deutschen bringt ungeahntes Leid.
Gianni Solla, geboren 1974 in Neapel, beweist ein feines Einfühlungsvermögen für seine Figuren. Seine natürliche, unprätentiöse, dennoch ausdrucksreiche Sprache eröffnet uns (dank Verena von Koskulls Übersetzung) sehr lebhaft und differenziert das Innenleben seiner drei Protagonisten und das komplexe Netz ihrer Beziehungen untereinander und zu ihrem Umfeld über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren. Seit dem Augenblick des Kennenlernens sind die drei eng miteinander verwoben. Im Mittelpunkt steht naturgemäß der innere Wandel des Ich-Erzählers. Nachdem er insgeheim elementare Fertigkeiten und Erkenntnisse vermittelt bekommen hat, emanzipiert sich Davide, der ewig Unterdrückte, aus eigener Kraft. Er erweitert seine Sprachkompetenz und verfolgt eine kluge Strategie, um sich von der Familie mit dem despotischen Vater und dem verständnislosen Leben in seinem Heimatdorf zu befreien. Sein kraftvoller Widersacher spürt längst, dass der Sohn in ein anderes Leben ausbrechen wird, und greift zu rabiaten Mitteln, um seine Macht zu bewahren, doch halten können sie den Jungen nicht. Sollas Roman (angeregt von einer wenig bekannten historischen Begebenheit) wird damit zu einem Beleg für die Kraft der Literatur im Leben des Menschen. Das gestaltete Wort öffnet das Tor zu fremden Welten und Kulturkreisen.
Mühselig, doch schließlich erfolgreich baut sich Davide in Neapel ein neues Leben auf. Wegen seiner körperlichen Beeinträchtigung wird er nicht einmal für einfachste Hilfsarbeiten eingestellt, findet aber Anschluss, wo es um Sprache, Gestik und Mimik geht, und schult sich selbst als monologisierender Einzelkünstler, der seine Zuschauer zu begeistern vermag, wo immer er auftritt. Er zehrt dabei weiter von den Inspirationen seiner Jugendfreunde, die ihn wie dunkle Schatten begleiten. So hatte ihn Nicolas durch aus dem Stehgreif zitierte Shakespeare-Auszüge nachhaltig beeindruckt, und die Erfahrung beflügelt ihn nun als Schauspieler.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2024 aufgenommen.