
Der König
von Jo Nesbø
Wer hat das Sagen im Dorfe Os, wer kann seine Projekte durchboxen? Die zwei Brüder Roy und Carl Opgard bekämpfen ihre Gegner und am Ende einander.
Nur einer kann König sein
Jo Nesbøs aktueller Krimi-Bestseller »Der König« (Originaltitel: »Kongen av Os«, übersetzt von Günther Frauenlob) hat eine Vorgeschichte. 2020 erschien im Ullstein-Verlag »Ihr Königreich« [› Rezension]. Da ging es um die Brüder Roy und Carl Opgard, die auf dem elterlichen Hof im unscheinbaren Dorf Os aufwuchsen. Nachdem Carl vom Vater missbraucht wurde, sinnt Roy (schon immer der Beschützer des kleinen Bruders) auf Rache. Er manipuliert das Auto des Vaters, und beide Eltern sterben bei einem Unfall.
Im aktuellen Roman herrschen ganz andere Verhältnisse auf dem Hof. Wie wir nach und nach in Rückblenden erfahren, hat Carl in den USA studiert, dort die glamouröse Shannon geheiratet und ist dann mit ihr in die norwegische Provinz zurückgekehrt. Gemeinsam haben die drei aus dem Hof ein gutgehendes Hotel gemacht und sich auch eine anerkannte Position in der kleinen Dorfgemeinschaft errungen.
Doch inzwischen kriselt es im Verhältnis der beiden Brüder zueinander. Roy, der eigentlich zurückhaltende Ich-Erzähler, hat Ambitionen, die weit mehr umfassen als nur das Hotel. Er möchte das Dorf Os samt seiner schönen Umgebung zu einer attraktiven Tourismusregion umgestalten. Dazu soll nach seinen Vorstellungen nicht nur ein moderner Hotelkomplex gehören, sondern auch ein Riesenrad in Superdimensionen.
Aber sein Vorhaben kollidiert mit dem, was anderen für die Region vorschwebt. Es gibt Pläne, die den Naturschutz favorisieren und dafür vorsehen, einen Straßentunnel zu errichten und die Nationalstraße um Os herumzuführen. Das aber würde für die Brüder bedeuten, dass all ihre bisherigen finanziellen Investitionen in den Sand gesetzt wären und die zukünftigen keine Chance auf Erfolg hätten.
Unter dem Druck solcher Aussichten bekommt die Fassade des unzertrennlichen, verschworenen Gebrüderpaares Risse. Zwar verfolgen sie ihre Projekte stets gemeinsam und ohne Skrupel, aber intern stößt die Loyalität an Grenzen. Die Verbrechen der Vergangenheit lasten auf ihren Seelen, und weitere werden nicht zu vermeiden sein. Denn eine Krise folgt der nächsten, und jede einzelne ruft für ihre Behebung nach Manipulation, Bestechung, Betrug und Fälschungen. Wenn es hart auf hart kommt, muss eine Lösung auch mal mit Gewalt herbeigeführt werden.
So eskaliert Nesbø hübsch geruhsam den Kampf der Brüder um die Vorherrschaft im »Königreich«, an dessen Ende nur einer den Posten des »Königs« von Os besetzen kann.
Nicht erst in der kritischen Rückschau, sondern schon beim Lesen haben mich Zweifel an der Qualität dieses Romans überkommen. Verbrechen und Grausamkeiten, wie man sie im Genre des skandinavischen Thrillers erwarten darf, finden sich zwar zuhauf, aber es hapert bei der Stimmigkeit, der Atmosphäre und dem Gesellschaftsbild.
Einsame kleine Orte weitab der Zivilisation haben in skandinavischer Literatur oft genug ihr vielfältiges Potenzial ausspielen können, aber Os, im Norden Norwegens angesiedelt, bleibt hinter den Erwartungen zurück. Die einfachen Menschen, die hier mit alltäglichen Problemen leben, sind sich untereinander alle nicht grün, und keiner kann unsere Sympathie erwecken. Die Charakterzeichnung bleibt zu flach, und Nesbø muss kräftig konstruieren, damit wir überhaupt so etwas wie Emotionen entwickeln und Anteil nehmen. Schon der Plot um den Ausbau des Dorfes zu einem überdimensionierten Touristenmagneten kann nicht recht überzeugen – er passt weder in die Landschaft noch zu den Menschen dort. Vielleicht wollte Nesbø seinen wie gewohnt angelegten Thriller dieses Mal mit einem Ausflug in das Genre Wirtschafts- oder Politkrimi bereichern, doch der wirkt wie ein Fremdkörper.
Dass Jo Nesbø spannende Unterhaltung schreiben kann, muss er nicht mehr beweisen – und natürlich halten uns auch in diesem Buch nicht wenige Szenen für eine Weile in Atem. So entwickelt sich der primäre Handlungsfaden um die Vorherrschaft recht komplex weiter – wobei Roy, der geschickte Mechaniker, die Fäden nicht aus der Hand gibt und immer wieder gerne auf bewährte Methoden und Werkzeuge zurückgreift.
Aber auf weiten Strecken geht einem nicht unter die Haut, was erzählt wird, und das liegt vor allem an unzureichender Authentizität und fehlendem Herzblut. Der Autor schiebt seine Figuren auf dem Spielfeld hin und her wie ein Schachspieler: methodisch und strategisch, um maximalen Effekt zu erzielen, und das ist legitim. Doch hier geht ihre Seele verloren, und wir nehmen keinen Anteil an ihrem Schicksal. So schreibt künstliche Intelligenz: Aus ihrem unendlichen Fundus kompiliert sie blitzschnell perfekt zusammenpassende Plot-Teile und situationsgerechte Formulierungen, aber komplexe Individuen und Atmosphäre kreieren kann sie (noch) nicht.
Neben Carl und Roy, den zwei unsympathischen Protagonisten mit ihrer üblen Historie als arme Opfer und mitleidlose Täter treten noch weitere Personen aus dem Vorgängerroman auf oder werden neu eingeführt, um Liebeleien, Eifersucht, Gegnerschaft und dergleichen Konstellationen und deren Auswirkungen zu gestalten, aber sie sind zu farblos, zu blutleer, zu eindimensional, als dass man sie als Menschen erleben könnte.
So erzeugen zu viele Szenen auf den über vierhundert Seiten des Königsdramas bloß Langeweile.