Rezension zu »Padre padrone« von Gavino Ledda

Padre padrone

von


Autobiographie · Maestrale · · 312 S. · ISBN 9788860737861
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sardinien

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Emanzipation aus der Steinzeit

Rezension vom 04.02.2010 · 15 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Dies ist ein autobiographischer Roman über eine erschütternd harte Kindheit und Jugend in einem archai­schen Sardinien der Hirten: Was anmutet wie Steinzeit, trug sich erst »kürzlich« zu – zwischen 1938 (Leddas Geburtsjahr) und ca. 1970.

Schauplatz ist das Dorf Siligo im hügeligen Nordwesten Sardiniens (Provinz Sassari), vor allem aber die endlosen Weiden darum herum. Die sind von Trocken­mauern umfasst, bieten eine karge Hütte als Unter­schlupf und Schutz gegen die Unbilden der Natur und müssen Tag und Nacht argwöhnisch bewacht wer­den gegen Räuber aus der Tier- und Menschen­welt. Glücklich kann sich schätzen, wer eine eigene Ziegen­herde besitzt; arm bleibt er trotzdem, und Schick­sals­schläge wie Krankheiten und Unwetter können jeder­zeit eine Wende bringen. Deswegen sind die Familien feste Gemein­schaf­ten, in denen jeder mit anfassen muss und der Vater ein starres Regiment führt.

Wie Abramo Ledda, herrisch und erbarmungslos, den kleinen Gavino ab seinem fünften Lebensjahr zum Hirten abhärtet, ist eine ergreifende Geschichte. Als erstes nimmt er den sensiblen Jungen wieder aus der Schule; die Einwände der Lehrerin zählen nichts gegen die schlichten Erforder­nisse einer Hirten- und Bau­ernfamilie. Die Lektionen, die der Vater ihm erteilt, kennen nur zwei Lernziele: das Überleben in der rauen Wildnis und die Ver­teidi­gung des mageren Besitzes. Alles, was diese beiden Anliegen und die Existenz der Familie gefährden könnte, muss getilgt werden (Angst, Zärt­lich­keit, Freude, Vertrauen, Indi­vidua­lität); alles, was ihnen dient, wird gestärkt (absoluter Gehorsam, Kälte, Misstrauen, Vorsicht, Voraus­schau, Genüg­sam­keit, Pflicht­bewusst­sein, Härte gegen sich selbst und andere). Die Erziehungs­methoden des Patriarchen sind schlicht: knappes Erklären – Vormachen – den Knaben Situa­tionen aussetzen, in denen er sich bewähren muss – brutale Züchtigung, wenn er Fehler macht. Lob und Ermutigung, Verständnis und Eigen­initia­tive gehören nicht dazu. Statt einer Kindheit durchlebt der Junge ein Martyrium.

Die erbärmlichen Lebensbedingungen der sardischen Kleinbauern haben sie offenbar emotional und sozial verkümmern lassen. Obwohl alle gleicher­maßen arm sind, befehden und bestehlen sie sich sogar unterein­ander. Das Ausmaß ihrer Verrohung wird vor allem im Umgang mit Kindern und Frauen erkennbar, denen sie weniger Fürsorge zuteil werden lassen als den Schafen und Ziegen. Gavinos tyranni­scher Vater ist keine Ausnahme, aber gewiss eine besonders extreme Ausprägung eines solchen arche­typi­schen Patriar­chen.

Das Kind hat gar keine andere Wahl, als sich dem grausamen väterlichen Despotismus zu unterwerfen. Aber seine Gedanken sind frei, ins­beson­dere in der Stille und Einsamkeit der Weiden und Hügel, allein mit der Herde, den wilden Tieren, die in den Nächten ihr Unwesen treiben, und den widrigen Natur­gewal­ten. Die wenigen Impulse aus der Schulklasse und sein wacher Geist treiben ihn voran, auch Träume zu ent­wickeln und mit bewun­derns­werter Ent­schlossen­heit zu verfolgen. Der vollkommen verständ­nislose, unein­sichtige und unnach­giebige Vater drischt blindlings und wie vom Teufel besessen auf seinen Sohn ein und kann doch dessen Willen nicht brechen. Die offen­kun­dige Einbuße an Macht durch einen erwachsen­den Rivalen, der ihm nicht an Körperkraft, wohl aber an Willens­stärke und geistigen Fähigkeiten überlegen ist, bringt die Fundamente seiner Weltsicht ins Wanken, und er weiß sich nicht anders zu wehren als durch rohe Gewalt.

Eine ungehinderte Entwicklung zu einem eigen­ständigen Charakter kann dem Jungen nur gelingen, wenn er sich dem Zugriffs­bereich des Tyrannen und am besten auch den ent­behrungs­reichen Konditionen der Insel entzieht. Diese Möglichkeit verspricht Gavino Ledda das Militär.

Erst auf dem »Kontinent« (dem italienischen Festland) erhält er endlich Zugang zu Bildung und der mo­dernen Welt, zu Technik und Literatur. Freilich muss er sich dazu durch weitere Stationen der Demütigung kämpfen, denn Sarden wurden als unzivili­sierte Hinter­wäldler verspottet und mussten Italienisch oft wie eine Fremd­sprache erlernen. Außerdem war die Kaserne natürlich ein neuerliches Gefängnis mit streng hie­rarchi­schen Strukturen. Aber Gavino Ledda bringt sich unermüdlich Lesen, Schreiben und Mathematik bei und absolviert erfolgreich Prüfungen, bis er Radio­techni­ker ist und einen Schulab­schluss schafft.

Er verlässt das Militär und kehrt in sein sardisches Heimatdorf zurück. Seine Hoffnung, er werde dort An­erkennung für seine Leistungen finden, wird jedoch bitter enttäuscht. Die Welt des »padrone« hat sich überhaupt nicht weiter­entwi­ckelt; die Talente und Qua­lifika­tionen des begabten Sohnes haben darin kei­nerlei Wert oder Vorteil – im Gegenteil: Geistiges Arbeiten ist für ihn faules Herumhocken. Des Vaters Herrsch­sucht ist ungebrochen, und noch immer sieht er keinen anderen Weg für einen Sohn, als sich zu fü­gen und Hirte und Bauer zu werden wie seine Vorfahren. Das Jahr ist 1962 ... Der endgültige Bruch zwi­schen den beiden Männern ist unver­meidlich.

Unweigerlich wird man an die alten Sagen der griechi­schen Mythologie erinnert. Die über fast zwanzig Jahre hin von beiden Seiten unnach­giebig geführte Aus­einander­setzung zwischen Vater und Sohn schlägt uns ebenso in den Bann wie die Schilde­rungen der archaischen Rück­ständig­keit der Insel.

Deutsche Ausgabe:
»Padre padrone«
(2003, dtv)
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Übersetzung: Heinz Riedt

Seit dem Erscheinen des Buches (1975) fasziniert, berührt und befremdet die Erzählung Millionen Leser weltweit. 1977 gewann die in den Dialogen weitgehend wortgetreue, puristische Verfilmung durch die Brüder Vittorio und Paolo Taviani bei den Festspielen in Cannes die Goldene Palme. 1978 erschien die deutsche Übersetzung (»Mein Vater, mein Herr«). Im Original ergänzt der Autor seinen italieni­schen Text bisweilen durch die entspre­chende Phrase in sardischer Sprache, was sehr auf­schluss­reich ist. Die deutsche Übersetzung belässt dieses Verfahren erfreu­licher­weise, obwohl natürlich der unmittel­bare Vergleich mit dem Italieni­schen verloren­geht.

In der Erzählung seiner Kindheit und Jugend beschönigt Gavino Ledda nichts – nicht die Lebens­bedingungen auf dem Niveau von Tieren, nicht die Bestialität der Menschen, nicht die brachiale Gewalt, nicht die sexuellen Nöte, nicht die existen­tiellen Ängste. Daher ergreift uns sein Buch auf viel elementa­rere, scho­nungslosere Weise als die Romane anderer großer sardischer Schrift­steller mit vergleich­baren Themen – etwa »Diario di una maestrina« von Maria Giacobbe [› Rezension], das elegische »Canne al vento | Schilf im Wind« der Nobel­preisträ­gerin Grazia Deledda [› Rezension] oder Michela Murgias »Accabadora«, der Bestseller, der 2009 eine Renaissance traditions­bewuss­ter sardischer Literatur auslöste [› Rezension].


DVD mit deutschen Untertiteln:
»Padre padrone«
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