Was uns die Gebeine der Enthaupteten zu erzählen wissen
Dieser Roman ist nur im italienischen Original (»L’ora di tutti«) oder als englische Übersetzung (»Otranto« ) erhältlich. Eine deutschsprachige Ausgabe scheint es leider noch nie gegeben zu haben.
Otranto ist ein Fischerstädtchen fast am südlichsten Punkt Apuliens – also an der ›Absatzspitze‹ des italienischen ›Stiefels‹. Wer es heute besucht, wird es als lebhaftes Örtchen um eine kleine Hafen- und Badebucht herum erleben und beeindruckt sein von den überraschend gewaltigen Bewehrungseinrichtungen, die sich durch den engen Ortskern ziehen: Hohe Mauern, die eine uralte Kirchenruine durchschneiden und sich schließlich zu einer trutzigen aragonesischen Festung emporstrecken. Im Abendlicht leuchten die Bauwerke ganz anmutig rötlich-gelb und lassen vergessen, was für Geschichten sie erlebt haben ...
Die zweite und vierhundert Jahre ältere Attraktion ist die Kathedrale Santa Maria Annunziata. Ihre schlichte Außenfassade dominiert eine kleine piazza in der Oberstadt.
Sehenswert ist der berühmte Mosaikfußboden aus dem 12. Jahrhundert, der das gesamte Innere bedeckt und dem Besucher Dutzende Geschichten aus Himmel, Hölle und Mythologie zu Füßen legt.
Eine sehr irdische Episode hält eine stets gut besuchte Kapelle im rechten Seitenschiff in Erinnerung: Dort ruhen in sieben großen Schränken die Gebeine der Martiri d’Otranto, der achthundert Otrantiner, die am 14. August 1480 von den türkischen Besatzern enthauptet wurden, weil sie ihrem christlichen Glauben nicht abschwören mochten.
Und mitten in diese Zeit hinein führt uns Maria Corti (1915-2002) , angesehene Sprachwissenschaftlerin und Literaturkritikerin, in ihrem ergreifenden Roman, der 1962 zuerst erschien. Er erzählt vom Alltagsleben in den Gassen von Otranto, von Fischern, Bäckern, Männern, Mädchen, Frauen und den Beziehungen der kleinen Leute untereinander – von ihrer Angst vor den immer näher kommenden türkischen Schiffen und von ihren verzweifelten und blutigen Versuchen, ihr belagertes Städtchen zu verteidigen.
Die Autorin lässt in einer Handvoll unterschiedlich langer Kapitel mehrere otrantini sprechen: einen Fischer, einen capitano, zwei Frauen – alles Ich-Erzähler, die von ihren eigenen Handlungen und denen der anderen sprechen, die über sich und ihre Nachbarn nachdenken, bis jeder einzelne unter dem Druck der äußeren Ereignisse der Belagerung – Kanonenschüsse, mürbe werdende Mauern, schließlich verzweifelte Zweikämpfe in den Gassen – in die Enge getrieben wird und seine Existenz, sein Lebenssinn und sein Leben zerstört wird. Auch diesen letzten Akt erzählt jeder der Protagonisten selbst – als sprächen die Schädel in der Cappella dei Martiri zu uns.
Neben dem Lokalkolorit und dem historischen Hintergrund sind die Beziehungen zwischen den Personen differenziert und reizvoll dargestellt; behutsam kündigen sich moderne Denkweisen an.
Ob das Massaker, dem in den darauf folgenden Jahrhunderten religiöse Überhöhung (martiri) zuteil wurde, tatsächlich so stattfand, ist unter Historikern übrigens durchaus umstritten. Aber das ist in diesem literarischen Zusammenhang irrelevant.
Insgesamt ist »L’ora di tutti« bzw. »Otranto« ein erstklassiges, literarisch anspruchsvolles, anrührendes und spannendes Buch, dessen Lektüre ich von der ersten bis zur letzten Seite genossen habe. Ein passenderes Buch für den kulturell und historisch interessierten Apulien-Reisenden kann ich mir kaum vorstellen.
Der italienischen Originalausgabe von Bompiani (in wunderbarem, nicht zu schwerem Italienisch), deren Umschlag symbolisch passend Adam und Eva aus dem Mosaik im Dom zieren, ist ein spröder literaturwissenschaftlicher Essay vorangestellt; der Tourist darf ihn ignorieren, um sich unmittelbar in die Lektüre des Romans zu stürzen – und wird sich fortan nicht mehr entziehen können!
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