Il compimento è la pioggia
von Giorgia Lepore
Am Tag des Schutzpatrons St. Nikolaus wird in Bari eine junge Frau brutal ermordet. Ihre fünfjährige Tochter ist Zeugin. Der Tatort ist ein Spurenchaos. Ispettore Gerri Esposito, ein zerrissener, widersprüchlicher, faszinierender Charakter, ist der Einzige, der Zugang zu ihr findet.
Bari, dunkle, eisige Stadt
Apulische Kaufleute raubten 1087 in Kleinasien die sterblichen Überreste des heiligen Nikolaus und überführten sie nach Bari, wo es an standesgemäßen Reliquien gerade schmerzlich mangelte. Sogleich errichtete man dem wirtschaftlich höchst willkommenen Neuzugang eine strahlend weiße Basilika innovativen Stils, die zu einem populären Ziel für christliche und orthodoxe Pilger werden sollte.
Am Abend des 6. Dezember, Nikolaus’ Todestag, ist alljährlich die ganze Stadt auf den Beinen und drängt sich in der engen Altstadt, wo die große Kirche wie eingezwängt wirkt. Nur der Platz vor ihrem Haupteingang lässt Raum. Man kauft an den Ständen scagliozzi, frittierte Polenta-Dreieckchen, Süßes oder Getränke, bevor oder nachdem man die Messe zu Ehren des Heiligen besucht.
Just an diesem Abend erschüttert ein entsetzliches Verbrechen die unbeschwerte Stimmung. In einer der vielen Basso-Wohnungen der dunklen Gassen wird eine junge Frau umgebracht. Caterina Camarda (»Ketty«), 24, lebte dort allein mit ihren Kindern Jennifer (5) und Kevin (etwas jünger). Deren Vater war auch oft da, wenn seine Tätigkeiten im Prostitutionsmilieu ihn nicht anderswo hinzogen. Dann schaute gern Pasquale Milanese vorbei, ein Mann aus gutem Hause, von dem Ketty schwanger war, der jedoch anderweitig fest verlobt ist. Schon in diesem engsten Umfeld ahnen wir hinreichende Motive für die Ermordung der lebenslustigen Ketty, und in den weiteren Kreisen der beiden Familien werden wir noch etliche andere entdecken.
In der Tat spricht alles dafür, dass Ketty sozusagen mehrmals ermordet wurde. Kurz nach einem einvernehmlichen Geschlechtsverkehr wurde sie brutal geschlagen, mit einem Messer misshandelt, die Fingerabdrücke stammen von mehreren Personen, darunter eine kleinere, weibliche, und die überall verschmierten Blutspuren lassen darauf schließen, dass der Körper des Opfers und die Wohnung zwischendurch flüchtig gesäubert wurden. Ein chaotischer Tatort also, unübersichtliche personelle Verhältnisse, auch durch das Fest bedingt, und eine ungewöhnliche Augenzeugin: Jennifer hatte sich mit ihrem Bruder während des Mordgeschehens in einer Truhe versteckt und behauptet steif und fest, ihr Vater Nicola Laforgia habe ihre Mutter erstochen.
In diesem Wust muss die Squadra Mobile Klarheit schaffen, und die ist selbst eine komplizierte Truppe. Sie wird geleitet von vicequestore Alfredo Marinetti, väterlich um Teamgeist bemüht und an einem reibungslosen Abschluss des Falls interessiert, und den beiden ispettori Sara Coen und Gregorio Esposito (»Gerri«). Als arroganter Widerling tritt der aus Mailand frisch zugeordnete PM Giancarlo Anteri auf, um hier im vermeintlich verlotterten Apulien Zucht und Ordnung einzuführen.
Gerri, 33, ist der Protagonist und der interessanteste, komplexeste, überzeugendste Noir-Charakter, der mir in letzter Zeit begegnet ist. Er ist aufregend schön und nicht unsympathisch, aber ziemlich schwierig. Er wuchs in einem neapolitanischen Roma-Viertel auf, bis ihn seine Mutter eines Tages im Regen stehen ließ, dann zogen ihn zwei tüchtige Betreuer eines katholischen Waisenhauses groß. An diesen drei Bezugspersonen hängt er bis heute, wie ihn auch die Traumata seiner Kindheit nicht loslassen. Nirgendwo hat der unruhige Geist Wurzeln schlagen oder einen Sinn im Leben finden können. Vielleicht deshalb fixiert er all seine Überlegungen in ausufernden Strukturdiagrammen, die dem Chaos des (und seines) Lebens Ordnung entgegensetzen sollen.
Dass er gern für alle anderen die Feiertagsschichten übernimmt, verschafft ihm eine gewisse Beliebtheit im Team, die er aber durch Brüskheit, Überheblichkeit und Unberechenbarkeit wieder ruiniert. Beziehungen zu Frauen hat er genug – von der Minderjährigen Lavinia (nur in idealisierenden Erinnerungen präsent) über die nigerianische Prostituierte Milly (die Partnerin für alle Fälle) bis zu Claudia (brisant, weil Marinettis Frau) und zur Kollegin Sara (zerschlagen, den Alltag vergiftend, Neustart nicht ganz ausgeschlossen). Dieser Mensch voller Widersprüche, Unwägbarkeiten und dunkler Geheimnisse verdient sich unsere Anerkennung für seine Professionalität, erregt unser Mitleid wegen seiner unverschuldeten sozialen Konflikte, vor allem aber überrascht er uns immer aufs Neue. Seine Unergründlichkeit birgt genug Potenzial für weitere Folgen (denn dies ist bereits der dritte Krimi der Serie).
Bei aller Widerborstigkeit zeichnet Gerri natürliches mitmenschliches Empfinden aus. Anderer Leute Leid löst bei ihm selber körperliche Schmerzen aus. Seine Empathie verschafft ihm spontanen Zugang zu der kleinen Jennifer. Die ist ihrerseits eine bemerkenswerte Persönlichkeit: intelligent, wissbegierig, von rascher Auffassung, dabei wortkarg, misstrauisch und abgebrüht. Nur Gerri schenkt sie ihr Vertrauen, alle anderen lässt sie abblitzen oder führt sie an der Nase herum. Im Gegenzug gibt er ihr ein folgenschweres Versprechen, auf das das Dürrenmatt-Zitat verweist, das dem Roman vorangestellt ist: »C’è da augurarsi che lei non faccia mai una promessa che debba mantenere« (aus »Das Versprechen«).
All dies stammt aus der Feder der apulischen Archäologin, Kunstgeschichtlerin und -lehrerin Giorgia Lepore (die in Martina Franca wohnt). Sie erzählt im Wesentlichen linear, nach Kalendertagen strukturiert, hauptsächlich aus Gerris Sicht, aber auch in das Innenleben der anderen Ermittler streiflichternd und (besonders intensiv) aus Täter-Perspektive. Sie vermittelt dem Leser die dunkelsten und kältesten Seiten von Baris Altstadt, die lebhafte Atmosphäre während der Festtage, die dazugehörigen Bräuche in den Familien und auch ein paar Dialektschnipsel. Die eisigen Tage zwischen San Nicola und dem 7. Januar vergehen im Kommissariat mit Verhören und Auseinandersetzungen zum weiteren Vorgehen, wobei Gerri aus den unterschiedlichsten Gründen oft an den Rand gedrängt wird. Viel Raum erhalten kommunikative Klippen und psychologische Tiefen, Obsessionen, Fluchten – völlig ausgeblendet bleiben direkte Gewaltdarstellungen.
Dem merkwürdigen Titel liegt ein arabisches Sprichwort zugrunde: »Le nuvole sono una promessa. L’adempimento è la pioggia.«