Una voce di notte
von Andrea Camilleri
Ein Supermarktleiter hängt sich auf, ein Wachmann wird erschossen, eine rassige junge Frau erstochen, und der Kommissar vergisst seinen Geburtstag.
Montalbano gegen die Korruption
Die Mafia beklauen – wer käme denn auf so eine Idee? Was im Einflussbereich der ›ehrenwerten‹ Familie Cuffaro liegt, ist so sicher, dass es nicht einmal einer Bewachung bedarf, und dazu gehört auch der supermercato in Cava d’Aliga. Trotzdem wurden in der Nacht die gesamten Tageseinnahmen aus dem Schreibtisch des Marktleiters Guido Nicotra (im Roman heißt er Borsellino) geklaut. Wer mag so dreist – oder töricht? – gewesen sein?
Als commissario Montalbano und sein Kollege Mimì Augello sich Nicotra vornehmen, ist er äußerst nervös und gereizt. Seine Geschichte vom defekten Nachttresor der Bank nehmen sie ihm nicht ab. Da es keine Aufbruchsspuren gibt, muss der Dieb einen Schlüssel besitzen. Der Zweitschlüssel liegt beim consiglio dell’amministrazione (der aus aus vier Cuffaro-Strohmännern bestehenden Geschäftsführung unter dem Vorsitz des onorevole Mongibello, Anwalt der Cuffaro), den anderen hat Nicotra selbst … Doch der weist jeden Tatvorwurf ungehalten von sich.
Am nächsten Morgen findet man Nicotra erhängt in seinem Büro. Selbstmord aus Einsicht, Reue, Verzweiflung, Angst? Im Lokalfernsehen Televigàta polemisiert der Kommentator Pippo Ragonese, die Kommissare hätten den armen Marktleiter durch ihre ruppige Befragung in die Enge und in den Suizid getrieben. Gerichtsarzt dottor Pasquano hat Montalbano allerdings bereits über seinen Befund in Kenntnis gesetzt, demgemäß Nicotra eindeutig ermordet wurde. Das hieb- und stichfest nachzuweisen, sagt er schadenfroh im Abgang, sei jedoch Montalbanos Problem …
Inzwischen beschäftigt die Polizei ein zweiter unnatürlicher Todesfall. Eine junge Frau wurde grausam erstochen. Ihr Lebensgefährte Giovanni Strangio fand sie und fuhr sogleich zum Kommissariat, um den Mord anzuzeigen. Trotz seines eigentümlichen Verhaltens – warum hat er nicht einfach angerufen? – kommt er als Täter nicht in Betracht, denn sein Alibi überzeugt. Auch diese Untersuchung wird in höheren Kreisen mit Argusaugen verfolgt, denn Giovannis Vater ist der presidente della Provincia di Montelusa, Michele Strangio.
Damit wird die Tentakelspitze einer Krake sichtbar, die, wie sich im Verlauf der Untersuchungen herausstellt, eine Vielzahl von Aktivitäten fest im Griff hat und jeden kaltblütig und mitleidlos in den Würgegriff nimmt, der aus der Reihe zu tanzen droht. Das gut organisierte Verbrechen auf familiärer Basis wird gedeckt und gestützt von einer ganzen Reihe einflussreicher Herrschaften in führenden Positionen der Politik, bei den Medien und sogar der Justiz, die alle ihr eigenes Süppchen kochen und nichts als ihren höchst privaten Vorteil im Blick haben. Was dieses System des stillen Gebens und Nehmens (»sensibile alle lusinghe«) an wirtschaftlichen, politischen und moralischen Schäden verursacht, interessiert sie ebenso wenig wie die Menschenleben, die wie ›Kollateralschäden‹ ihrer eiskalten Strategien einkalkuliert werden.
Da gibt es für Montalbano viele Nüsse zu knacken, um all den sorgsam verborgenen Verbindungen auf die Spur zu kommen und zwischen den Fronten des Eigennutzes seinen eigenen Kurs durchzuhalten. Von der Politik bekommt er Druck, in den Medien wird er vorgeführt, der Staatsanwalt favorisiert ganz andere Theorien als er, und der questore Bonetti-Alderighi jammert: »Lei mi ha fregato la carriera!« …
Wie Krakenarme tauchen mehrere Handlungsfäden aus der trüben Realität, tangieren einander, tauchen wieder ab, bis endlich zu ahnen ist, wer alles involviert ist, wo alles zusammenläuft. Bis dahin sind drei Morde geschehen, es gibt gleich mehrere Geständige zur Auswahl, und schließlich freut sich sogar der questore Bonetti-Alderighi: »Abbiamo vinto!«
Dieser Film ist besonders dialogintensiv. Polizisten und Verhörte liefern Informationen, Montalbano erläutert seine Schlussfolgerungen, und der Zuschauer muss gut zuhören und mitdenken, um am Ende das komplexe Gesamtbild aus Realität und Täuschungsmanövern erfassen zu können. Zum Glück für uns stranieri ist die Dialektschwelle sehr niedrig; man spricht zumeist Italienisch, nicht Sizilianisch.
Montalbano findet dieses Mal kaum Muße, sich melancholischen Grübeleien über das Altern hinzugeben. Dafür stimmen ihn die Resultate seiner Nachforschungen pessimistisch. Jahrzehnte seines Lebens hat er Verbrechern gewidmet, um der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen, und was hat er bewirkt? Mit Mimì Augello sinniert er über das Große und Ganze: »Che paese è diventato il nostro? … un paese in cui un ministro della Repubblica, poco tempo fa, … ha detto che con la mafia bisogna convivere … sono preoccupato per il mio paese …« Camilleri selbst beklagt (in »Camilleri racconta«, einem zweiminütigen Monolog, der den Ausstrahlungen auf Rai Uno neuerdings vorausgeht), wie die Korruption in Italien fortschreitet, auch nach mani pulite, ihrer offiziellen konzertierten Bekämpfung in den Neunzigern, und er resümiert, »Una voce di notte« sei »un romanzo contro la corruzione … un romanzo che vince i corrotti … ma forse perché è solo un romanzo.« Dies ist ein politischer Kriminalroman.
Bemerkenswert:
• Ispettore Fazio erweist sich als wahre rechte Hand des commissario. Er steht nicht nur mit seinen Notizzetteln bereit, um pingelig zu berichten, was er fleißig recherchiert hat, sondern liefert seinem Chef witzigerweise Auskünfte, ehe der ihn überhaupt mit den Nachforschungen beauftragt hat (»Già fatto.«). Montalbano staunt ungläubig über diesen Beweis von Kongenialität, aber er bügelt die Sonderleistung lieber mit einem Sarkasmus weg, statt seinen Assistenten einmal kräftig zu loben.
• Dass Montalbano Geburtstag hat (58 wird er), hat er natürlich vergessen (oder vielleicht verdrängt). Catarella erinnert ihn daran, indem er ihn herzlich umarmt (gut gemeint, aber dem Chef deutlich unangenehm), und der Anruf von Livia bewirkt (wie so oft) nur Missstimmung …
• Catarella darf über die gewohnte Rolle des Tolpatschs und Wortverdrehers (avvocato Nullo Manenti wird zu »Nulla Facenti«) hinaus wieder einmal als Computerexperte glänzen. Das gibt ihm die seltene Chance, seinem meist ruppigen Chef mal etwas zu erklären (»Ha capito?« …).
• Der Film enthält viele ruhige Szenen, die Kamera konzentriert sich oft auf das feine Mienenspiel der Protagonisten.
Ausgaben:
• Der Film im italienischen Original: »Una voce di notte«
• Der Film in deutscher Synchronisation:
»Eine Stimme in der Nacht«
in »Commissario Montalbano – Volume VII« (4 DVDs)
• Informationen zu den Textgrundlagen des Films finden Sie in der Übersicht aller Fernsehfilme.
• Außerdem bietet Ihnen Bücher Rezensionen vollständige Übersichten aller Fernsehfilme, aller Romane und aller Erzählungen über den commissario Montalbano.