Rezension zu »Maria di Ísili« von Cristian Mannu

Maria di Ísili

von


Belletristik · Giunti · · 160 S. · ISBN 9788809819511
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sardinien

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Ohne Kompromisse

Rezension vom 08.02.2017 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Dies ist ein kraftvoller, stimmig und dicht konstruierter, sprachlich faszinie­render und sehr sardischer Roman, den der Bank­angestellte Cristian Mannu (geboren 1977 in Cagliari) als Erstling verfasst hat. Er wurde dafür mit dem Premio Italo Calvino 2015 geehrt, einem Preis für noch unver­öffent­lichte litera­rische Debüts. Im April 2016 erschien das Buch bei dem großen Traditions­verlag Giunti (gegründet 1497).

Mannu zeichnet die komplexen Porträts einer außer­ordent­lichen, eindrucks­vollen Frau, Maria Piga aus dem Städtchen Ísili (etwa 70 km nördlich von Cagliari gelegen), und des Mannes, der ihr Leben prägte, Antonio Lorrài. Die Liebe, die die beiden wie ein Sturm dahinreißt, ist von einer Urgewalt jenseits aller Vernunft, lässt keinen Raum für Kompro­misse, bündelt zerstöre­rische statt auf­bauende Kräfte und zehrt nicht nur das Leben der beiden Liebenden auf, sondern beein­trächtigt auch das von weiteren betrof­fenen Personen.

Über die individuellen Schicksale hinaus stellt Mannu seine Protagonisten in inner­familiäre und regionale sardische Entwicklungs­strukturen. Marias Mutter Rosalia, von einem ähnlichen Drang, ihre wahre Liebe gegen alle Konven­tionen auszuleben, musste sich noch dem straffen Rollen­system ihrer Zeit unter­werfen; Maria aber wählt mit Antonio selbst­bewusst einen skandalös eigen­willigen Weg, nimmt alle drohenden Sanktionen und Konse­quenzen in Kauf und geht letzten Endes unglück­lich zugrunde; erst Marias Enkelin ist es vergönnt, zu sich zu finden und eine selbst­bestimmte Existenz aufzu­bauen. Mit diesen drei beein­druckenden Gestalten hat Mannu das traditio­nelle Bild der sardischen Frau, die in einer archaischen, maskulin dominierten Hirten­gesell­schaft kaum ein Profil entwickeln konnte, um ganz neue Varianten bereichert, die sich auch von den fein­sinnigen Roman­heldinnen der Nobel­preis­trägerin Grazia Deledda abheben.

Demgemäß fesselt den Leser vor allem, was die Charaktere in ihrem Innersten umtreibt. Die äußere Handlung hält zwar bestürzende Details und tragische Entwick­lungen bereit, ist jedoch relativ unkom­pliziert und nicht der eigentliche Spannungs­träger. Ihr Kern trägt sich zu zwischen Ísili, gezeichnet als ländlich-idylli­scher Ort relativer Unschuld, und der Hafen­stadt Cagliari, die ebenso für wirt­schaftlichen Aufschwung wie für Armut und Perspektiv­losigkeit des modernen Proletariats steht.

Die erzählte Zeit umfasst in etwa die letzten hundert Jahre und vier bis fünf Generationen. Doch mit präziser Chronologie will Mannu seine Geschichten nicht einzäunen. Konkrete Zeiträume werden der realen Historie allenfalls vage beige­ordnet. Statt spitzer Jahres­zahlen breitet der Autor als Zeitkolorit hinter den Episoden atmosphärisch intensive Szenerie- und Motiv­teppiche aus, die vor allem die Tragik der Handlung in mythische All­gemein­gültigkeit abzuheben scheinen. Umso präziser wird der Handlungs­fort­schritt auf der Insel verortet: Zahlreiche sardische Dörfer, Berge, Seen sind als Schauplätze beschrieben, lokale Dialekte werden unter­schieden, evokative Natur­phänomene erfüllen leitmoti­vische Funk­tionen (un vento possente e intrigante; un albero con le radici, anche se storte; l’aquila rossa con il dorso bianco; papaveri viola; avena selvatica).

Die Familienchronik beginnt mit Michele Piga aus Macomer, der (in den Zwanziger­jahren?) mit seinem Freund Pietro Uggias in Sizilien Arbeit sucht. Das Mädchen Rosaria Granata verliebt sich unsterblich in Pietro, doch der ist schon vergeben. Um ihm nahe zu bleiben, heiratet sie Michele und kehrt mit beiden in deren Heimat zurück. Mit größten Anstren­gungen gelingt es Michele, sich trotz seiner problem­beladenen Persön­lichkeit eine anerkannte bürgerliche Existenz aufzu­bauen. Doch als Pietro Selbstmord begeht, kann er nicht abwenden, dass Rosaria nur noch Verachtung und Hass für ihn aufbringt und in tiefe Depression versinkt. An ihrer Stelle zieht die Hebamme des Dorfes, Salvatorica Carboni (genannt Zia Borìca), die beiden Töchter auf. Während Evelina Erfüllung in der Religion findet, entfaltet die etwas jüngere Maria dank Zia Borìcas vielfältiger Anre­gungen all ihre außer­gewöhn­lichen Talente und entwickelt sich zu einer gebildeten, fantasie­vollen, kreativen und sensiblen jungen Frau. Besonders virtuos erstellt sie am Webstuhl der Zia Wand­teppiche mit kühnen Designs aus Woll- und Kupfer­fäden.

Auftritt Antonio Lorrài, allseits berüchtigter Abenteurer und Frauenheld, der, desinter­essiert am reichen Landbesitz seiner Familie, lieber als Kupfer­schmied und Kessel­flicker durchs Land zigeunert. Er verführt und schwängert Evelina, wird überredet, sie zu heiraten, doch gleich­zeitig verfällt ihm Maria und er ihr: »Fui io a portarlo alle vigne. Fu lui a insegnarmi l’amore. Fummo in due a rubarci il destino.« Die beiden entfliehen Hals über Kopf nach Cagliari – ein unerhörter Skandal, der Mutter Rosaria in den Selbst­mord treibt und Vater Michele aus der mühsam gehaltenen Bahn wirft.

In wenigen Jahren des Glücks werden die Tochter Rosaria und drei weitere Kinder geboren, aber Antonio ist zu unstet, vernach­lässigt Geschäft und Familie, verwahr­lost bei Glücks­spiel und Alkohol, setzt sich ab. (Jahre später wird er unter unklaren Umständen umge­bracht, womöglich vom eigenen Vater veran­lasst.)

Für den Rest ihres Lebens hält Maria sich und ihre Familie mit einfachen Hilfs­arbeiten kärglich über Wasser. Der politische Aktivist (und begeis­terte Deledda-Leser) Sergio Desogus zieht zu der noch immer attraktiven, kultivierten Frau und heiratet sie nicht nur um des gemeinsamen Kindes Anna willen. Aber wieder scheitern alle Bemühungen, eine gesicherte bürger­liche Existenz aufzu­bauen, an charakter­lichen und sozialen Unzu­länglich­keiten. Die Kinder werden im kirchlichen collegio der suore erzogen, Sergios Bewunde­rung für Maria, die niemals aufgibt, schlägt in Hass um, schließlich wird die Familie in ein trost­loses soziales Brenn­punkt­viertel umge­siedelt. Alle über­lebenden Kinder suchen ihr Glück auf dem Konti­nent, Maria verliert an Kraft und stirbt, während ihre Schwester Evelina, Antonio Lorràis Witwe und Erbin, dessen Vermögen für Marias Kinder bewahrt. Davon profitiert insbe­sondere Marias Enkelin, die am Ende aus Mailand in Evelinas Haus zieht, sich als Künstlerin verwirk­licht und mit Mann und Kindern eine optimis­tische Perspektive eröffnet. Mit dieser zweiten »Maria di Ísili« schließt der Autor den Kreis ver­söhn­lich; sein persön­liches Anliegen ist nach eigenem Bekunden, seine sardische Heimat zu einer zukunfts­gewandten Erneuerung zu ermutigen.

Um die schillernde Vielschichtigkeit der Beziehungen und Vorgänge zu erfassen, legt Mannu seinen Roman multi­perspektiv an. Zehn Personen sprechen (oder schreiben) nach­einander wie in einer Art Zeu­gen­stand, schildern ihre Erleb­nisse mit den anderen, fällen deutliche Urteile oder halten sich, wenn sie nicht genug wissen oder erfahren haben, lieber zurück. Zu Wort kommen Maria, ihre Mutter Rosaria, ihr Vater Michele, ihr Geliebter Antonio, dessen Freund Giovannino, Marias Ehemann Sergio, ihre cagliare­sische Freundin Teresina, ihre Schwester Evelina und ihre Enkelin, die andere Maria di Ísili. Den Anfang aber macht die um­fassende, engagiert parteiische Erzählung (mit durch­gehend para­phrasierten dialek­talen Ein­sprengseln) der Hebamme Salvatorica Carboni, die mit der Familie eng verbunden war und der über Jahr­zehnte kein Geheimnis im Dorf verborgen blieb. Hat man ihre Geschichte gelesen, über­rascht, ja schockiert oft genug, wie sich die Charaktere, Bezie­hungen und Ereig­nisse aus der Sicht der teils heftig ge­schmäh­ten und verach­teten anderen Beteiligten darstellen, und selbst Marias starkes Selbstbild, so diffe­renziert und fein­fühlig vorge­tragen, gerät ins Wanken. War sie nicht doch einfach zu naiv und ignorant?

Das Verfahren erinnert rein äußerlich an den Roman »Il figlio di Bakunin« des Sarden Sergio Atzeni, 1991 erschienen und 1997 von Gianfranco Cabiddu verfilmt, und mehr noch an den japani­schen Film­klassiker »Rashomon« (1950). Während dieser aber krimino­logische, psycho­logische, mora­lische, philoso­phische und sogar politisch-histo­rische Dimen­sionen vereint, beschränkt sich Mannus Roman auf die Heraus­arbei­tung der psycho­logischen Unter­schiede zwischen den Personen, ihrer Beur­teilung und Präsen­tation.

Beeindruckend und begeisternd ist die Vielfalt der Stile, mit denen Mannu seine Figuren zu zeichnen vermag. Nach eigener Aussage inspiriert von den Autoren der erfolg­reichen »Nuova letteratura sarda« (insbe­sondere Sergio Atzeni und Michela Murgia), der Lyrikerin Maria Chessa (aus Alghero) und dem cantautore Fabrizio De André, gelingen Mannu hinreißend eindringliche Seiten, die den intensiven Ton von Gebeten, formel­haften Beschwö­rungen, dann wieder von leichten Volks­weisen erklingen lassen oder durch zarte Poesie bezau­bern können, stets von stimmigen Bild­konzepten durch­drungen und gleich­zeitig ganz auf den Charakter ihres Sprechers zuge­schnitten.

In seinem fesselnden Roman verwebt Mannu einen Katalog spannender Themen (Liebe und Hass, Freund­schaft und Verrat, unsägliche Geheim­nisse, tödliche Tragik, bitterer Über­lebens­kampf …) mit keines­wegs neuen, aber neu inter­pretierten Motiven sardischer Literatur (archaische Wert­systeme, Rollen­zwänge, unter­drückte Anders­artig­keiten …), der politi­schen, sozialen und wirt­schaft­lichen Ent­wicklung der Gesell­schaft (etwa Spekulation und Korruption in Cagliari) und einem eben­falls an den Traditionen orien­tierten, dennoch innova­tiven Stil – frischer Wind also für die sardische Literatur.

Überfrachtet der Autor seinen literarischen Einstieg nicht mit diesem prallen Konzept? Nein. Er bietet ein­fach ein pralles Lese­vergnügen. Man muss gespannt sein, wie Cristian Mannu seine Schrift­steller­lauf­bahn fort­setzen wird.


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