Heimliche Versuchung: Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall
von Donna Leon
Kein Mord im diesjährigen Venedig-Krimi! Aber vielleicht ein brutaler Überfall, Drogenhandel, Betrug im Gesundheitswesen, Korruption selbst in der Questura des commissario Brunetti? Der Gentleman unter den Ermittlern geht auf unsicheren Pfaden.
Melancholie in Venedig
Auch in der »Serenissima«, der (selbst ernannt) heitersten aller Städte, wird es einmal Herbst. Im November, wenn sich Nebelbänke über der Lagune ausbreiten, Markusplatz und Canale Grande in fahlerem Licht erscheinen, lassen die Touristenströme nach, es wird stiller in den Gassen, wo nachts wieder Einsamkeit zu finden ist. Die Einheimischen haben wieder Muße für ein Schwätzchen, die Uhren gehen langsamer.
Da befällt auch commissario Guido Brunetti Besinnlichkeit. Da gerade keine schwierigen Ermittlungen anstehen, kann er ohne Druck seinen Gedanken nachhängen – über seinen Beruf, dessen gesellschaftliche Funktion, Möglichkeiten und Grenzen, über grundsätzliche Fragen wie die Macht der Herrschenden, Gesetze und Gerechtigkeit, Schuld und Strafe, Täter und Opfer. Sophokles’ trostlose Tragödie von Antigone, als Schullektüre in seiner Erinnerung, gibt ihm erneut zu denken. Für Kreon, den strengen Hüter des Gesetzes, wäre Vergebung einer Schuld Verrat am Gemeinwohl. Für Brunetti wird sie eine Verlockung. (Der amerikanische Originaltitel lautet denn auch »The Temptation of Forgiveness« , »Die Versuchung des Vergebens«.)
Nachdenklichkeit und ernste Stimmungen setzen den Grundton von Brunettis siebenundzwanzigstem Fall, der auf weiten Strecken in ruhigem Fahrwasser dahingleitet, ohne dass dem commissario (oder uns Leser) ein Verbrechen in die Quere käme und das Nervenkostüm blank legte. Bei seinen Streifzügen in der verwinkelten Lagunenstadt, wo er jede calle, jede Brücke, jede Adresse auf Anhieb findet, begegnen Brunetti an jeder Ecke Schein statt Sein, menschliche Schwäche statt Größe. Gegen Versuchungen ist auch er selbst nicht gefeit – dem Augenschein zu trauen, vorschnelle Schlüsse zu ziehen, den einfachen Weg zu gehen, aufzugeben in seinem alltäglichen, vergeblichen Bemühen um Gerechtigkeit in einer undurchschaubar kompliziert gewordenen Welt. Der commissario wirkt erschöpft, reif für den Rückzug ins Private.
Weil es in einem Krimi nicht anders geht, setzt ein Krimi-Plot ein, in dessen Verlauf es Brunetti mit allerlei Vergehen, Beschuldigungen, Gerüchten zu tun bekommt, die allesamt keine Spektakel auslösen, sondern eher Symptome unserer Zeit repräsentieren.
Eine professoressa, Kollegin von Brunettis Gemahlin Paola an der Universität, wendet sich an die Polizei, weil sie befürchtet, dass an der renommierten Privatschule, die ihr Sohn besucht, Drogen verkauft würden. Ehe der commissario seine Fühler in die einschlägigen Kreise ausstrecken kann, findet man den Ehemann der besorgten Mutter schwer verletzt an einem Brückenübergang. Ist er gestürzt oder gestoßen worden? Hat er möglicherweise der Versuchung nachgegeben, sich der Sache selber anzunehmen, und ist in eine gefährliche Szene geraten?
Der profaneren Lockung des Geldes konnten ein Apotheker und eine Ärztin nicht widerstehen. Sie verschreibt Rezepte, er löst sie ein, und Leidtragende des raffiniert in Szene gesetzten illegalen Deals sind kranke Patienten. Doch bald kommt Brunetti dahinter, was die Medizinerin dazu brachte, sich auf so ein verwerfliches Unternehmen einzulassen. Ihre schwere persönliche und familiäre Notlage trifft ihn so tief, dass er sogar versucht ist, sie vor der Strafverfolgung zu bewahren. Mehr noch als in den Vorgängerbänden ist nichts leicht, nichts einfach in diesem Buch.
Neben den moralphilosophischen und kulturkritischen Reflexionen, denen man, weil sie fundiert sind, gerne folgt, und der Krimihandlung, die sie gewissermaßen exemplifiziert, ist das vertraute Personal die dritte Säule des Lesevergnügens (ermöglicht durch die Übersetzung von Werner Schmitz). Wie wenn man bei einem Familienfest das Gesicht eines Verwandten erspäht und gleich sein ganzes Wesen vor Augen hat, genügt die bloße Nennung eines Namens auf der Seite, um Bescheid zu wissen. Wenige Federstriche der Autorin umreißen das Wesentliche des Charakters: Wer ist der »typische Karrierist in Staatsdiensten«, gibt sich immer »geschäftiger, als er war«, besitzt »einen schwarzen Gürtel in der Kunst, Schuld oder die Verantwortung für Misserfolge auf andere abzuwälzen«? Auch der ebenso feinfühlige wie disziplinierte Brunetti durchschaut seinen Vorgesetzten vicequestore Patta bis in dessen letzte Winkelzüge und weiß mit ihm umzugehen. Solange es ihn nicht allzu viel Überwindung kostet, spielt er ihm Unterwürfigkeit vor, um dann ungestört seiner eigenen Wege zu gehen.
Wie immer ist Brunettis alterslose Familie ein sicherer Rückzugsort und ein Hort der Harmonie für ihn: Ehefrau Paola, Literaturwissenschaftlerin, würdevoll emanzipiert, sanft, aber bestimmt, und Chiara und Raffaele, die beiden Musterkinder, die rein rechnerisch längst in ihre eigenen Hausstände umgezogen sein müssten. Man kommuniziert gepflegt und hat mit Verständnis und Toleranz noch jede Klippe gemeinsam überwunden. Im Dienst stehen dem commissario mit dem aufrichtigen, bedachten Polizisten Vianello und signorina Elettra, Pattas bezaubernd schöner Sekretärin, die geräuschlos zwischen allen Lagern vermittelt und alles Wissenswerte irgendwie beschafft, kaum dass Brunetti sie höflich darum ersucht hat, zwei verlässliche Helfer zur Seite. Dagegen spielt tenente Scarpa, Pattas Schützling, eher sein eigenes Spiel.
Die soliden Lebensumstände und sein kultiviertes Wesen geben Brunetti Ruhe und Ausgeglichenheit für seinen Beruf. Da mag Patta noch so sehr zur Eile mahnen oder Druck in eine bestimmte Richtung machen, der commissario nimmt sich die Zeit, die er braucht, um gründlich zu recherchieren, alle denkbaren Optionen auszuloten, und niemals verliert er die Contenance. Geschickt stellt er sich bei Unterredungen und Vernehmungen darauf ein, wie es ihm aus dem Wald entgegenschallt, und gibt sich mal respektvoll, mal unterwürfig oder greift entschieden durch.
Wie so oft hat Donna Leon, die gebildete Weltbürgerin und bedeutende Mäzenin der Barockmusik, ihrem Roman ein Motto vorangestellt, das sie einem Werk ihres Lieblingskomponisten Georg Friedrich Händel entnommen hat: »Das Gesetz verurteilt, / die Liebe verschont« (Oratorium »Esther«). Wie immer begeistert das Buch durch feine Zeichnung der Figuren, kultivierte Sprache, gedankliche Tiefe, Denkanstöße in viele Richtungen. Der Plot ist eingebettet in philosophische, moralische, literarische, musikalische und aktuelle Bezüge. Gewaltszenen gibt es nicht, diesmal auch keinen Mord. Brunetti trägt fast nie eine Waffe – »Schusswaffen bringen nur Unglück«, formuliert die amerikanische Autorin prägnant. Ebenso unmissverständlich kritisiert sie die Stadtpolitik von Venedig, die es zulässt, dass der überbordende Kommerz den Zauber der Stadt bald zerstört haben wird, so wie die Kreuzfahrtriesen die Anmut des Markusplatzes und die Jahrhunderte alten Fundamentpfähle der palazzi. Sie selbst ist inzwischen nach Graubünden umgezogen.