Rezension zu »Heimliche Versuchung: Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall« von Donna Leon

Heimliche Versuchung: Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall

von


Kein Mord im diesjährigen Venedig-Krimi! Aber vielleicht ein brutaler Überfall, Drogenhandel, Betrug im Gesundheitswesen, Korruption selbst in der Questura des commissario Brunetti? Der Gentleman unter den Ermittlern geht auf unsicheren Pfaden.
Kriminalroman · Diogenes · · 336 S. · ISBN 9783257070194
Sprache: de · Herkunft: us · Region: Venetien

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Melancholie in Venedig

Rezension vom 06.08.2018 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Auch in der »Serenissima«, der (selbst ernannt) heitersten aller Städte, wird es einmal Herbst. Im November, wenn sich Nebel­bänke über der Lagune ausbreiten, Markus­platz und Canale Grande in fahlerem Licht erscheinen, lassen die Touristen­ströme nach, es wird stiller in den Gassen, wo nachts wieder Einsam­keit zu finden ist. Die Einheimi­schen haben wieder Muße für ein Schwätz­chen, die Uhren gehen langsamer.

Da befällt auch commissario Guido Brunetti Besinnlichkeit. Da gerade keine schwierigen Ermittlungen anstehen, kann er ohne Druck seinen Gedanken nachhängen – über seinen Beruf, dessen gesell­schaft­liche Funktion, Mög­lich­keiten und Grenzen, über grund­sätz­liche Fragen wie die Macht der Herr­schen­den, Gesetze und Ge­rechtig­keit, Schuld und Strafe, Täter und Opfer. Sophokles’ trost­lose Tragödie von Antigone, als Schul­lektüre in seiner Erinne­rung, gibt ihm erneut zu denken. Für Kreon, den strengen Hüter des Gesetzes, wäre Vergebung einer Schuld Verrat am Gemein­wohl. Für Brunetti wird sie eine Verlockung. (Der ame­rikani­sche Original­titel lautet denn auch »The Temptation of Forgiveness« Donna Leon: »The Temptation of Forgiveness« bei Amazon, »Die Versuchung des Vergebens«.)

Nachdenklichkeit und ernste Stimmungen setzen den Grundton von Brunettis siebenund­zwanzigs­tem Fall, der auf weiten Strecken in ruhigem Fahrwasser dahin­gleitet, ohne dass dem commis­sario (oder uns Leser) ein Verbrechen in die Quere käme und das Nerven­kostüm blank legte. Bei seinen Streif­zügen in der verwin­kelten Lagunen­stadt, wo er jede calle, jede Brücke, jede Adresse auf Anhieb findet, begeg­nen Brunetti an jeder Ecke Schein statt Sein, mensch­liche Schwäche statt Größe. Gegen Ver­suchun­gen ist auch er selbst nicht gefeit – dem Augen­schein zu trauen, vorschnelle Schlüsse zu ziehen, den einfachen Weg zu gehen, aufzu­geben in seinem alltäg­lichen, vergeb­lichen Bemühen um Gerechtig­keit in einer undurch­schaubar kompliziert geworde­nen Welt. Der commis­sario wirkt erschöpft, reif für den Rückzug ins Private.

Weil es in einem Krimi nicht anders geht, setzt ein Krimi-Plot ein, in dessen Verlauf es Brunetti mit allerlei Vergehen, Beschul­digun­gen, Gerüchten zu tun bekommt, die alle­samt keine Spektakel auslösen, sondern eher Symptome unserer Zeit repräsen­tieren.

Eine professoressa, Kollegin von Brunettis Gemahlin Paola an der Universität, wendet sich an die Polizei, weil sie befürchtet, dass an der renom­mier­ten Privatschule, die ihr Sohn besucht, Drogen verkauft würden. Ehe der commis­sario seine Fühler in die ein­schlägi­gen Kreise ausstre­cken kann, findet man den Ehemann der besorgten Mutter schwer verletzt an einem Brücken­über­gang. Ist er gestürzt oder gestoßen worden? Hat er mög­licher­weise der Versuchung nachge­geben, sich der Sache selber anzu­nehmen, und ist in eine gefähr­liche Szene geraten?

Der profaneren Lockung des Geldes konnten ein Apotheker und eine Ärztin nicht wider­stehen. Sie verschreibt Rezepte, er löst sie ein, und Leidtra­gende des raffiniert in Szene gesetzten illegalen Deals sind kranke Patienten. Doch bald kommt Brunetti dahinter, was die Medizi­nerin dazu brachte, sich auf so ein verwerf­liches Unter­nehmen einzu­lassen. Ihre schwere persön­liche und familiäre Notlage trifft ihn so tief, dass er sogar versucht ist, sie vor der Straf­verfol­gung zu bewahren. Mehr noch als in den Vor­gänger­bänden ist nichts leicht, nichts einfach in diesem Buch.

Neben den moralphilosophischen und kulturkritischen Reflexionen, denen man, weil sie fundiert sind, gerne folgt, und der Krimi­hand­lung, die sie gewisser­maßen exempli­fiziert, ist das vertraute Personal die dritte Säule des Lese­vergnü­gens (ermög­licht durch die Überset­zung von Werner Schmitz). Wie wenn man bei einem Familien­fest das Gesicht eines Verwandten erspäht und gleich sein ganzes Wesen vor Augen hat, genügt die bloße Nennung eines Namens auf der Seite, um Bescheid zu wissen. Wenige Feder­striche der Autorin umreißen das Wesent­liche des Charakters: Wer ist der »typische Karrierist in Staats­diensten«, gibt sich immer »geschäf­tiger, als er war«, besitzt »einen schwarzen Gürtel in der Kunst, Schuld oder die Ver­antwor­tung für Misser­folge auf andere abzuwäl­zen«? Auch der ebenso feinfüh­lige wie diszipli­nierte Brunetti durch­schaut seinen Vorge­setzten viceques­tore Patta bis in dessen letzte Winkel­züge und weiß mit ihm umzu­gehen. Solange es ihn nicht allzu viel Überwin­dung kostet, spielt er ihm Unter­würfig­keit vor, um dann unge­stört seiner eigenen Wege zu gehen.

Wie immer ist Brunettis alterslose Familie ein sicherer Rück­zugs­ort und ein Hort der Harmonie für ihn: Ehefrau Paola, Literatur­wissen­schaft­lerin, würde­voll emanzipiert, sanft, aber bestimmt, und Chiara und Raffaele, die beiden Muster­kinder, die rein rechne­risch längst in ihre eigenen Haus­stände umge­zogen sein müssten. Man kommu­niziert gepflegt und hat mit Verständ­nis und Toleranz noch jede Klippe gemein­sam über­wunden. Im Dienst stehen dem commis­sario mit dem aufrich­tigen, bedach­ten Polizisten Vianello und signo­rina Elettra, Pattas bezau­bernd schöner Sekretä­rin, die geräusch­los zwischen allen Lagern vermittelt und alles Wissens­werte irgendwie beschafft, kaum dass Brunetti sie höflich darum ersucht hat, zwei ver­läss­liche Helfer zur Seite. Dagegen spielt tenente Scarpa, Pattas Schütz­ling, eher sein eigenes Spiel.

Die soliden Lebensumstände und sein kultiviertes Wesen geben Brunetti Ruhe und Aus­geglichen­heit für seinen Beruf. Da mag Patta noch so sehr zur Eile mahnen oder Druck in eine bestimmte Richtung machen, der commis­sario nimmt sich die Zeit, die er braucht, um gründlich zu recher­chieren, alle denk­baren Optionen auszu­loten, und niemals verliert er die Conte­nance. Geschickt stellt er sich bei Unter­redun­gen und Ver­nehmun­gen darauf ein, wie es ihm aus dem Wald entgegen­schallt, und gibt sich mal respekt­voll, mal unter­würfig oder greift entschie­den durch.

Wie so oft hat Donna Leon, die gebildete Weltbürgerin und bedeutende Mäzenin der Barock­musik, ihrem Roman ein Motto vorange­stellt, das sie einem Werk ihres Lieblings­komponis­ten Georg Friedrich Händel entnommen hat: »Das Gesetz verurteilt, / die Liebe verschont« (Oratorium »Esther«). Wie immer begeistert das Buch durch feine Zeichnung der Figuren, kultivierte Sprache, gedank­liche Tiefe, Denkan­stöße in viele Richtun­gen. Der Plot ist einge­bettet in philo­sophi­sche, morali­sche, literari­sche, musikali­sche und aktuelle Bezüge. Gewalt­szenen gibt es nicht, diesmal auch keinen Mord. Brunetti trägt fast nie eine Waffe – »Schuss­waffen bringen nur Unglück«, formu­liert die ame­rikani­sche Autorin prägnant. Ebenso unmiss­verständ­lich kritisiert sie die Stadt­politik von Venedig, die es zulässt, dass der überbor­dende Kommerz den Zauber der Stadt bald zerstört haben wird, so wie die Kreuz­fahrt­riesen die Anmut des Markus­platzes und die Jahrhun­derte alten Fundament­pfähle der palazzi. Sie selbst ist inzwi­schen nach Grau­bünden umge­zogen.


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