Ich bleibe hier
von Marco Balzano
In der bewegten Geschichte Südtirols zwischen den Dreißigerjahren und 1950 wird die Bevölkerung in verfeindete Lager gespalten. Die Familie von Trina und Erich durchleidet das gesamte vielschichtige Drama. Über allem droht das Damoklesschwert des Staudammprojekts von Reschen, das ihre Heimat auch physisch vernichten wird.
Lauter verlorene Schlachten
An diesem Kirchturm fährt keiner vorbei, ohne anzuhalten und ein paar Fotos zu machen. Nicht seine schlichte Architektur noch sein Alter (fast sieben Jahrhunderte) lässt die Touristen auf die Bremse treten, sondern seine frappierende Unvollständigkeit. Nicht weit vom Ufer des Reschensees ragt nur seine obere Hälfte mit dem simplen Spitzpyramidendach aus dem Wasser. Ihm fehlt ein Fundament, ein Portal, seine Kirche.
Das Wasser hat ihm auch seinen Gottesacker genommen, das Dorf, dessen Mittelpunkt er war, die Äcker, Weiden, Wälder und das ganze grüne Tal, das er überragte. So treibt er jetzt einsam und verlassen auf der riesigen Wasserebene, ein malerischer und ›deprimierender Anblick. Ein Schaukasten informiert die Besucher, was es mit dem wunderlichen Bauwerk auf sich hat.
Umfassender und ergreifender, als ein Schaukasten das vermag, hat der Mailänder Autor Marco Balzanodie Hintergründe beschrieben, die mit der Schaffung des Stausees im Vinschgau verbunden waren. Das Titelbild zeigt den berühmten halben Kirchturm, aber der Roman setzt andere Schwerpunkte. »Ich bleibe hier« (Maja Pflug hat »Resto qui« ins Deutsche übersetzt) erzählt im Grunde die Geschichte Südtirols, wie sie die Familie der Ich-Erzählerin Trina schmerzvoll erlebt hat. Der Turm ohne Unterleib steht darüber wie ein Symbol.
Trinas Geburtsort ist das Bauerndorf Graun. Italienisch sprach damals niemand in Südtirol – es gehörte bis 1918 zu Österreich. Ihr Vater betreibt eine Tischlerei in Reschen, die Mutter führt den Hof. Sie ist eine kantige Frau mit einfachen Ansichten und raschem Urteil. Das Leben ist für sie ein Kampf, für Emotionen und Räsonnieren ist da kein Platz. Trina scheint zu ihrem Ärgernis aus der Art geschlagen, denn das Mädchen liest wie besessen, ist wissbegierig und nachdenklich. Die Sprache, glaubt sie, sei das mächtigste Werkzeug für eine Frau: »Ich glaubte, sie könnten mich retten, die Wörter.« Zu Mutters Leidwesen lernt sie Italienisch, steckt sogar ihre Freundinnen Maja und Barbara an mitzumachen, damit sie alle drei einmal Lehrerinnen werden.
Der Wunsch erfüllt sich anders als erwartet, denn nach dem 1. Weltkrieg wird Südtirol von Italien annektiert. Um die widerspenstige deutschsprachige Provinz zu italianisieren, fördert die Regierung in Rom (ab 1924 unter Mussolini) die Industrialisierung der Städte, die Zuwanderung italienischer Arbeiter und Beamter aus dem Süden, verordnet das Italienische als Amtssprache, übersetzt alle geographischen Bezeichungen, verbietet die deutsche Sprache. Aus Graun wird Curon, aus Reschen Resia, aus der Etsch der Adige, aus dem Vinschgau das Val Venosta, aus Südtirol Alto Adige. In den Schulen unterrichten nun Lehrkräfte aus dem Süden, die die Sprache ihrer Schüler nicht verstehen, und die Kinder verstehen die ihrer Lehrer nicht. Südtirolerinnen wie Trina, Maja und Barbara haben keine Chance, eine Stelle zu bekommen.
Assimiliert werden die Südtiroler durch diesen Druck nicht. Sie sprechen weiter Deutsch und organisieren für ihre Kinder heimlichen Deutschunterricht. Obwohl dafür Verschleppung und Haft droht, engagieren sich Trina und ihre Freundinnen hier – und zahlen einen hohen Preis. Am Tag, als Trina ihren seit Langem verehrten Erich Hauser heiratet, wird Barbara von den Carabinieri abgeholt.
Waren sich die Südtiroler im Kampf gegen die Italianisierung noch einig, so bringt das Hitler-Mussolini-Abkommen 1939 eine tiefgreifende Spaltung bis in die Familien hinein. Denn jede Familie muss sich nun entscheiden, ob sie alles hinter sich lassen und nach Deutschland umsiedeln (»Optanten«) oder auf ihrem Besitz bleiben und damit die Zugehörigkeit zu Italien hinnehmen will (»Restanten«).
Egal wie die Wahl ausfällt, man hat fortan die anderen zu erbitterten Feinden. Während eine große Mehrheit auszuwandern beschließt, kommt die Option für Erich, einen starken, eigensinnigen, eher schweigsamen Mann, nicht in Frage, er würde niemals seine Heimat aufgeben. Aber seine Schwester und ihr Mann machen sich eines Nachts klammheimlich auf den Weg »heim ins Reich«. Trinas und Erichs Tochter Marica, um die sie sich liebevoll gekümmert hatten, wenn die beiden in der Schreinerei oder auf dem Hof arbeiteten, nehmen sie mit. Den abschiedslosen Verlust ihrer Tochter verwindet Trina nie. Für sie schreibt sie die Familiengeschichte auf.
»Es schien, als käme die Geschichte nicht bis hier herauf.« An so einen Bergfrieden konnte man vielleicht zu Zeiten der Österreicher noch glauben. Doch schon um 1911 ahnen die Vinschgauer, dass ihr Heimattal nicht nur durch die internationale Politik, sondern auch durch den technischen Fortschritt bedroht werde. Man munkelt, die Kraft der Etschzuflüsse solle genutzt werden. Nach dem Krieg entwickeln die Italiener Pläne, den Reschensee um fünf Meter aufzustauen. Doch erst ab 1937 werden konkrete Projekte in Angriff genommen, über die die Bevölkerung allerdings durch eine infame Informationspolitik im Unklaren belassen wird. Nach Beginn der Baumaßnahmen wird 1939 scheibchenweise bekannt, dass der Wasserspiegel um 22 Meter erhöht, somit das ganze Tal überflutet und Ackerbau und Viehwirtschaft, seit Jahrhunderten Existenzgrundlage der Menschen, unmöglich werden würde.
Das ominöse Staudammprojekt wirbelt die große Politik in die Köpfe der Menschen. »Die Faschisten haben größtes Interesse daran, unsere Gemeinschaft zu zerschlagen und über ganz Italien zu verstreuen.« Hitler-Deutschland erscheint vielen als natürlicher Verbündeter, als ersehnter Erlöser von italienischer Unterdrückung. Wenn Südtirol deutsch würde wie Österreich, würde Hitler dem Volk niemals seinen Boden wegnehmen lassen. Der Kriegseintritt Italiens im Juni 1940 bringt eine Atempause: »Jetzt werden sie wenigstens mit dieser Geschichte vom Staudamm aufhören … Jetzt müssen sie an andere Dinge denken.« Die Dammarbeiten ruhen.
Als nach Mussolinis Sturz 1943 die Deutschen einmarschieren, jubeln viele. Aber Trina und Erich (»Wir sind weder Nazis noch Faschisten!«) fliehen mit Deserteuren und Partisanen für über ein Jahr ins eisige Hochgebirge, um der allgemeinen Wehrpflicht zu entgehen. Nach Kriegsende kehren viele »Optanten« desillusioniert zurück, doch auf ihren Höfen leben jetzt Italiener, und die früheren Nachbarn beschimpfen sie als Nazis.
Die neue italienische Republik setzt auf Industrialisierung und fädelt einen Deal mit Schweizer Investoren ein, um den Staudamm nun endlich fertigzustellen. Die Methoden ändern sich nicht. Wer sich nicht auf Entschädigungsversprechen einlässt (die Zahlungen werden lächerlich niedrig ausfallen), wird in Barackensiedlungen umgesiedelt. Massen süditalienischer Arbeiter treffen ein. 1950 ist der Damm fertig, alle Häuser – außer dem Kirchturm von Graun/Curon – sind abgerissen, der Wasserspiegel steigt und steigt.
Erstaunlich, dass der Widerstand gegen den Staudamm erst an Kraft gewinnt, als es längst zu spät ist. Jahrelang hatte Erich seine Landsleute vor den Planungen und dem drohenden Existenzverlust gewarnt, an ihre Heimatliebe appelliert, Ingenieure zur Rede gestellt, Versammlungen organisiert, von Trina formulierte Flugblätter verteilt und Eingaben verschickt, doch Solidarität konnte er nicht schaffen. Er wird als Querulant angesehen, der Damm werde schon keinen Schaden anrichten. »Was sie nicht sehen, gibt es nicht«, sagt Erich über seine trägen Mitbürger. Die Geistlichkeit zuckt mit den Schultern und mahnt zur Besonnenheit angesichts eines übermächtigen Gegners, nur Pfarrer Alfred kämpft entschlossen an Erichs Seite. Erst 1947 – die Bauarbeiten sind bereits weit fortgeschritten – ist die Wut groß genug für organisierte Aktionen. Man schreibt an hochrangige Politiker in Rom, erhält eine Audienz bei Papst Pius XII., doch ändern wird sich nichts mehr. »Wenn ihr euch nicht mit der Politik beschäftigt, beschäftigt sich die Politik mit euch« – was Barbaras Vater den Mädchen eingebläut hatte, bewahrheitet sich.
Die Geschichte ihrer Familie, ihrer Freunde, des Dorfes, des Tales und Südtirols – all diese dramatischen Ereignisse erzählt Trina im sachlichen Ton einer Chronik. Ihre Ausdrucksweise ist schmucklos, die Sätze sind kurz; allenfalls klingt etwas Pathos an. Der Autor (der selbst am Schaukasten für den Stoff motiviert wurde) hat aufwändig recherchiert und führt die Handlung sehr nah an der historischen Realität entlang, stets aus der Perspektive der Einheimischen. Aus deren Sicht kommen die Italiener schlecht weg – die Politiker ohnehin, aber die zu Tausenden herangekarrten armen Bauarbeiter auf andere Weise: »Halunken«, »halbe Analphabeten aus Sizilien und dem ländlichen Venetien«, »mit stumpfsinnigen Gesichtern« und »erloschenen Augen«, »noch viehischer als unsere Bauern«.
Dass Balzano (ein geborener Sizilianer) diese Sichtweise unverblümt abbildet, ist bemerkenswert, denn die meisten Italiener sehen ihre Vergangenheit vor und während des Faschismus noch immer unkritisch. So ist das Verhältnis alteingesessener Südtiroler zu Italien trotz erheblicher Zugeständnisse Roms an die autonome Region Trentino-Alto Adige bis heute angespannt. Vor allem dort wurde das Buch ein Bestseller, weiter im Süden stieß es auf geringeres Interesse, aber im Juli 2018 wurde es als zweiter Sieger des Premio Strega 2018 nominiert. Wäre Marco Balzano Erster geworden, wäre er der erste und einzige Autor dieses seit 1947 vergebenen Preises, der ihn zwei Mal erhielt, denn bereits 2014 war er mit »L’ultimo arrivato (Das Leben wartet nicht)« [› Rezension] Strega-Sieger geworden.
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