Rezension zu »La leggenda del morto contento« von Andrea Vitali

La leggenda del morto contento

von


Belletristik · Garzanti · · 238 S. · ISBN 9788811681519
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Lombardei

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Der Schneider von Bellano und die Winde am Comer See

Rezension vom 24.08.2011 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ist doch ganz einfach: Trotz des dräuenden Unwetters, das über die Berge herüberzieht, lösen Francesco Gorgia und Emilio Spanzen, zwei übermütig gestimmte junge Männer, die Vertäuung ihres Bootes, um zum kaum drei Kilometer entfernten Westufer des Comer Sees hinüberzusegeln. Dort, so spekulieren sie, harren ihrer aufregende erotische Abenteuer. Leider aber erfasst der Sturm das Schifflein und lässt es kentern. Den Leichnam Francescos entreißt die Rettungsmannschaft sogleich den tosenden Elementen; der des Emilio bleibt hingegen noch ein Weilchen verschollen ("disperso") ...

Was an diesem Unglück könnte Lesevergnügen für 238 Seiten hergeben?

Zum Ersten sind es die Menschen, mit denen Vitali sein Buch bevölkert: Das Jahr ist 1843, und wir sind im Städtchen Bellano am Ostufer des oberen Teils des Lago di Como. Das ist noch kein teures Touristenpflaster mit Autobahnanbindung an Mailand und die Schweiz, sondern abgelegenes Hinterland, dumpfe Bergödnis ("quella latrina di paese"), aus der Menschen mit Ambitionen möglichst bald versetzt zu werden begehren. Hier wohnen reichlich Käuze, die meisten egoistisch, missgünstig, menschenverachtend, dreist oder täppisch, vor allem aber Frauen ("comare"), die allesamt ihre Männer dominieren und dirigieren, wenn nicht malträtieren, oder, sofern verwitwet oder jungfräulich geblieben, maliziös beobachten, spitzzüngig begutachten und raffiniert beeinflussen, was im Dorf abgeht. In diesem Panoptikum süßsaurer Karikaturen gibt es - wenn überhaupt - nur einen einzigen Sympathieträger, und das ist der furchtsame, lakonische Schneider Lepido Bernasconi. Das weitere Schicksal dieses armen Wichts wird von dem Fatum bestimmt werden, dass er zum einzigen Augenzeugen des Ablegemanövers ward ...

Die Fäden ziehen natürlich andere: Da ist in erster Linie die Familie Gorgia, die seit Jahrhunderten alles, was Gewinn und Einfluss verspricht, aufgekauft und nutzbringend verwaltet hat; Giangenesio Gorgia, Francescos Vater, hält alle Zügel in der Hand ("gente che se ne andava in giro con la sacca dei diritti davanti e quella dei doveri a penzoloni, dietro, sulla schiena"). Selbst die Repräsentanten der Obrigkeit müssen ihm gerecht werden. Das fällt ihnen allerdings nicht schwer, denn ihre alltäglichen Entscheidungen und aufgeblasenen Dokumente resultieren ohnehin aus einem recht flexiblen Begriff von Recht und Ordnung, ausgelegt erstrangig nach höchst persönlichen Vorteilen, als da sind: Macht, Karriere, Freizeit, gutes Essen und Trinken, Gesundheit, Mitwirkungsgelüste der Ehefrauen ...

Als deutlich wird, dass Giangenesio Gorgia das Ableben seines Sohnes, Stammhalters und Alleinerben nicht als Unfall hinzunehmen, sondern einen Schuldigen verurteilt zu sehen gedenkt, müssen sich eine ganze Reihe von Verantwortungsträgern gut überlegen, wie sie diesem Wunsch gerecht werden und nebenbei ihre eigenen Interessen befördern können: Cecco Ribaldi ("il Baldi"), zuständig für alles, was mit Wasser im und Bewegung auf dem See zu tun hat; Geronzio Manichetta, der pingelige Dorfpolizist; Alceste Sacaraffia, Amtsrichter ("pretore") mit aktiv inspirierender Gemahlin; Gian Giacomo Feneroli, Ortsvorsteher/Bürgermeister ("podestà"), von Gicht geplagt und ans Bett gefesselt (wenn's passt), von deftigem Essen träumend (permanent); der Arzt, der Dorfpfarrer, und viele andere. Aus der Welt wirken die Modernisierungskräfte der Zeit (Handel, Bergbau, Eisenbahnen, Investments ...), und aus den Städten werden Experten umworben (wie l'ingegner Kaspar Spanzen).

Aus diesem Hauen und Stechen auf engem Raum kristallisieren sich Defizite der Mitmenschlichkeit und der Gerechtigkeit heraus, die uns ungläubig den Kopf schütteln, aber auch schmunzeln lassen, so ähnlich wie beim guten alten bürgerlichen Realisten Gottfried Keller.

Zum Zweiten begeistert mich Andrea Vitalis Fabulierfreude - auch sie ein wenig an die Liebe der Realisten zu präziser Wortwahl, zu Detail und Ausgestaltung und zu ironischer Betrachtungsweise erinnernd. Vitali bastelt, wenn nötig, lange Satzschachtelungen mit spekulierenden, abwägenden, präzisierenden Einschüben ganz im Stil des 19. Jahrhunderts, und wer jede unbekannte Vokabel nachschlagen will, bräuchte schon mehr als ein Kompaktwörterbuch: "il magnano" (De Mauro-Definition: artigiano che esegue piccoli lavori in ferro battuto), "il cerusico" (chi esegue piccole operazioni chirurgiche, come salassi, estrazioni di denti e sim., in base a semplice esperienza manuale), "il giannizzero" (chi è alle dipendenze di una persona importante e ne esegue ogni comando) ... Lassen Sie's lieber gleich, und genießen Sie einfach - das meiste erschließt sich durchaus aus dem Kontext.

Zum Dritten beeindrucken die Schilderungen der Landschaft, des Sees, des Wetters und ihrer - meist feindseligen - Auswirkungen auf die Menschen: "la breva" (vento periodico dei laghi lombardi, che soffia dalle valli verso i monti), "il favonio" (vento caldo di ponente), "la bufera" (forte vento a raffiche, con neve, pioggia o grandine) ... Nicht nur il Baldi (von Berufs wegen) und Lepido (der Trost darin findet) beobachten das Theater am Himmel, wo sich Wolken in angriffslustige Hunde verwandeln, und auf dem See, wo "un concerto di fischi, ululi, spruzzi e onde alte un metro" tobt. Die Menschen sind den Extremen - drückende Schwüle im Sommer, eisige Kälte im Winter; gleißende Mittagssonne auf dem See, stockdunkle Nacht in engen Gassen und Bergtälern - hilflos ausgeliefert. Kein Wunder, dass manch einer lächelt, wenn er diese Gegend hinter sich lassen darf, und wenn es um den Preis seines Lebens ist ...

Andrea Vitali, 1956 in Bellano geboren und noch heute als Arzt dort tätig, wird in Italien sehr viel gelesen und wurde vielfach prämiert. Auf Deutsch sind bisher nur drei seiner etwa fünfundzwanzig Bücher erschienen: Sie handeln von kauzigen Damen wie Tante Rosina und einem Mieder (Piper, 384 Seiten) [italienisch: La figlia del podestà (Garzanti, 350 Seiten)], von Signorina Tecla Manzi und einem Heiligenbildchen (Piper, 288 Seiten) [italienisch: La signorina Tecla Manzi (Garzanti, 262 Seiten) - auch als Hörbuch (Salani, 4 CDs)] sowie von Signora Montani mit ihren fabelhaften Hüten (Piper, 336 Seiten) [italienisch: La modista. Un romanzo con guardia e ladri (Garzanti, 385 Seiten)]. Diese Auswahl verleiht Vitali ein viel zu enges Profil; seine niveauvolle und dabei höchst unterhaltsame Erzählkunst verdient eine umfänglichere Leserschaft auch im deutschen Sprachraum.

"La leggenda del morto contento" (Die Legende vom glücklichen Toten) ist Vitalis neuester Roman (erschienen im März 2011) und noch nicht in deutscher Sprache erhältlich.


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