Mirko in der Sackgasse
Die Turriani-Brüder Mirko, 17, und Tommaso, 11, sind wahre Musterknaben. In der Schule sammeln sie Bestnoten. Mirko kann nicht nur klar geordnet denken, sondern auch hocheffizient lernen. Bei Tests plant er seine Lösungen komplett vor, ehe er mit dem Schreiben beginnt. Weltferne Stubenhocker sind die beiden aber nicht. Sport, Freunde, Musik, Computerspiele sind ihnen wichtig. Mehrmals in der Woche geht Mirko zum Basketballtraining, und für Fußball begeistern sich beide. Laster wie Alkohol oder Rauchen haben keinerlei Attraktivität für sie. Ihr Alltag ist vollständig durchstrukturiert, sie halten sich an sinnvolle Regeln, die sie selbst vereinbart haben, ihre Ziele sind klar definiert. Sie meistern ihr Leben auf vorbildliche Weise und besser als viele Erwachsene.
Im Februar des Jahres kamen ihre Eltern – eine Kinderärztin und ein Anwalt – bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die Jungen hätten zu ihren nächsten Verwandten, dem kinderlosen Ehepaar Eugenio und Giovanna, nach Pavia umziehen können, doch mitten im Schuljahr hätte das ihrem schweren Verlust und ihrer Trauer nur noch weitere Härten hinzugefügt. Daher gestattete ihnen der giudice tutelare, in ihrer vertrauten Umgebung in Mailand zu bleiben, und übertrug zio Eugenio, dem Bruder der Mutter, die Aufsichtspflicht.
Seither leben die beiden Jungen allein in ihrer Eigentumswohnung. Was nach einem wahr gewordenen Traum von ›sturmfreier Bude‹ klingt, ist in Wirklichkeit nüchterne Pflichterfüllung. Mirko führt den Haushalt, kauft ein, kocht, hält alles in Ordnung und kümmert sich um seinen kleinen Bruder, der seine Aufgaben ohne Widerworte erledigt. Mirko steht unter gehörigem Druck, ebenso wie der pingelige zio Eugenio. Obwohl der größtes Vertrauen zu Mirko hat und dessen Qualitäten offen anerkennt, muss jede Ausgabe durch Kassenzettel oder Quittung belegt werden. Durch häufige Telefonate, Besuche in der Wohnung und Gespräche mit den Lehrern behält zio Eugenio jederzeit den Überblick, aber menschliche Nähe und Wärme vermag er nicht zu schaffen.
Mehr Empathie und Offenheit finden die Jungen beim zweiten Bruder der Mutter, dem homosexuellen zio Gil. Der wohnt sogar in Mailand, ist aber als Fotograf und dauerklammer Lebenskünstler ständig unterwegs und, wenn es offiziell wird, nicht handlungsbefugt.
Schon die Eltern stellten höchste Anforderungen an sich und ihre Kinder. Man pflegte freundlichen, respektvollen, rationalen Umgang miteinander. Als nach Mirkos Grundschulzeit in den Wohnblocks von Giambellino der Wechsel ins Gymnasium anstand, wählten die Eltern das »liceo Leonardo Da Vinci«, weil es »il miglior liceo scientifico di Milano« war. Dass Mirko sich dort mit verwöhnten Sprösslingen aus reichen Elternhäusern würde arrangieren müssen, erkannten sie nicht als Problem. Ihr Sohn würde seine Persönlichkeit durch Leistung stärken.
Unter den gegebenen Ausnahmeumständen darf sich Mirko keinen einzigen Fehler erlauben. Sind alle Hausaufgaben ordentlich erledigt? Muss er eine Entschuldigung schreiben, einen von Tommasos Lehrern sprechen? Ist die Wohnung makellos aufgeräumt? Ist genügend Fleisch, Fisch, Gemüse und Salat für einen ausgewogenen Speiseplan eingekauft? Haben weder Nachbarn noch Trainer den kleinsten Anlass zu Beschwerden? Zio Eugenio würde niemals laut tadeln, aber schon seine konsequenten Nachfragen sind unangenehm genug.
So ein Level an Perfektion kann kein Jugendlicher aufrechterhalten, nicht einmal einer wie Mirko, der sogar seine Emotionen im Griff hat. Als im Freundeskreis die Idee aufkommt, übers Wochenende mal eben nach Madrid zum Champions-League-Finale zu jetten – für 1.200 Euro pro Nase –, möchte Mirko gern dabeisein, zumal auch seine Freundin Greta gleich begeistert ist und die gemeinsame Übernachtung im Hotel ihn mindestens ebenso lockt wie das Match. Wie aber soll er an so viel Geld kommen, ohne dem gewissenhaften Onkel eine plausible Begründung für so eine Eskapade vorlegen zu können?
So begibt sich Mirko, der vorbildliche, durch und durch vernünftige, zuverlässige, vorzeitig zum Erwachsensein gezwungene und doch noch unerfahrene Jugendliche auf dünnes Eis. Er heckt, wie er es kennt, einen sicheren Plan aus, beschafft das Geld, scheitert aber nicht unvorhersehbar an den Prinzipien, die nun mal seinen Status als Vollwaise eingrenzen, und gerät am Ende in eine üble Sackgasse. Auf dem Weg dahin muss er mehr über die bitteren Realitäten des Lebens erfahren, als er in seiner bisherigen, trotz allem wohlbehüteten Existenz ahnen konnte.
Giorgio Scianna erzählt diese Geschichte vom Erwachsenwerden in einem unemotionalen, aufgeräumten Stil. Der Erzähler protokolliert die Gespräche und Handlungen, hält Distanz zu seinen Protagonisten, so wie es auch deren Wesen entspricht. In der ersten Hälfte beobachten wir, wie sich alle Betroffenen in der schwierigen »situazione« nach dem tödlichen Unfall nolens volens, aber doch bewundernswert reibungsfrei arrangieren. Doch indem sich Mirko sehenden Auges, geradezu wider besseres Wissen auf das Madrid-Abenteuer einlässt, obgleich dessen Implikationen nebulös sind, schleicht sich in winzigen Schritten das Unheil ein, das im letzten Viertel für einige Spannung sorgt: Wird Mirko sich retten können?
Dass er in Kalamitäten gerät, kann man Mirko kaum anlasten. Wie könnte man einem Siebzehnjährigen, der soeben seine Eltern verloren hat und unter permanentem Druck steht, alles richtig zu machen, Unerfahrenheit und Abenteuerlust vorwerfen? Der Leser ahnt aus seiner Beobachterdistanz viel früher, als es Mirko selbst bewusst wird, wie sein Fundament ins Wanken gerät. Trotzdem ergreifen uns die Ereignisse nicht wirklich. Das liegt einerseits am undramatischen Erzählstil, andererseits an den Charakteren, denen es an Herzblut mangelt. Sie sind sympathisch, aber eigenartig entrückt.
Das Buch ist thematisch und sprachlich (einfaches Alltagsitalienisch) ohne weiteres für Jugendliche ab ca. vierzehn Jahren zu empfehlen, aber auch für Erwachsene eine anregende Lektüre. Heranwachsen war schon immer eine riskante Sache.