The fool on the hill
Vittore Guerrieri muss man sich als glücklichen Menschen vorstellen. Vor zehn Jahren hat er sich in Ceglie Messapica (Provinz Brindisi) niedergelassen, und das lebhafte apulische Städtchen ist ihm mit seinen liebenswerten Einwohnern und dem reizvollen Umland zur geliebten Heimat geworden. Seinen Lebensunterhalt verdient der alleinstehende Fünfzigjährige, indem er das hervorragende Olivenöl der Gegend europaweit vermarktet und ausliefert. Reich ist er davon nicht geworden, aber das Wenige, das er sich wünscht, um sein Leben zu genießen, kann er sich gönnen: eine kleine Wohnung mit Terrasse an der Piazza, leckeres Essen, viel Zeit mit den Freunden in der Bar.
Nicht immer war Vittores Leben so sorglos. Seine Mutter zog ihn in Morcella, einem Dorf in Umbrien, unter bescheidenen Bedingungen ohne Vater groß, mit sechzehn verließ er die Region für immer und schlug sich alleine durch. In seiner finstersten Phase verfiel er dem Glücksspiel, doch er überwand sie, ernüchterte, besann sich, suchte sich eine neue Umgebung, wo er Wurzeln schlagen könnte. Ceglie nahm ihn mit offenen Armen auf. Morcella und Umbrien verschwanden spurlos aus seinem Bewusstsein.
Bis ihn eines Tages ein Telefonat von dort erreicht. Eine Maklerin hat ihn ausfindig gemacht, um ihn zu informieren, dass jemand la sua casa in Morcella kaufen wolle. Die Ausländer böten einen guten Preis. Vittore, dem Geld nicht viel bedeutet, bleibt gelassen. Nicht aber sein bester Freund Mario, »bravo amico e protettore della mia pigra generosità, [...] che lui proprio non riesce a capire«. Als die Sache ungewollt in der Bar publik wird, schwillt Vittores Status gewaltig an – mit einer Immobilie im Rücken und einem Vermögen in Aussicht nimmt der sympathische, aber von Irgendwo Zugezogene auf einmal konkretere Gestalt an und wird zum Objekt unersättlicher Neugier. Die kann er selbst jedoch nicht besser als die anderen befriedigen, denn an das bescheidene Häuschen seiner Kindheit erinnert er sich kaum und weiß schon gleich nichts über seinen heutigen Zustand und Wert. Mario übernimmt spontan das Ruder, verkündet publikumswirksam, Vittore ins unbekannte Umbrien (für Apulier eine Hinterwäldlergegend) begleiten und dafür sorgen zu wollen, dass der etwas weltfremde Freund sich nicht über den Tisch ziehen lässt, und alle Kumpane in der Bar sind begeistert und voller Vorfreude, was sie anschließend an abendfüllenden spannenden Erzählungen erwarten wird.
So startet man bald gen Nordwest, drei Männer in einem alten Lieferwagen: »Io, Vittore, girovago alla ricerca di un'eredità. Mario, sarto pantalonaio, assatanato di slot machine«, und, zu aller Überraschung, »il Professore, insegnante in pensione, che per la prima volta in vita sua varca i confini della regione.« Schon während der Fahrt schafft die Konstellation konträrer Persönlichkeiten amüsante Episoden, wenn der »professore«, eine wandelnde Enzyklopädie der Kulturen und Künste, dem pragmatischen, verfressenen, ungeduldigen, ruppigen Mario mit detailverliebten Vorträgen auf den Keks geht oder letzterer sich im Autogrill den Magen vollschlagen will, während der spindeldürre, geizige Rentner genügsam im Auto bleibt oder sich allenfalls mit minestrina in brodo oder pasta in bianco bescheidet.
Wie zu erwarten gestaltet sich die Immobilientransaktion kompliziert und erfordert noch weitere Fahrten zwischen Ceglie und dem rustikalen umbrischen Hinterland. Wie Vittore nach und nach erfährt, steht ein Anteil am mütterlichen Häuschen einem zwielichtigen Onkel zu. Der wurde jedoch brutal ermordet, wodurch sein Erbteil – zusammen mit einem stattlichen, wenn auch kitschig ausstaffierten Villenanwesen – auf seinen Sohn Volendo überging. Um das Erbe wie auch immer nutzbar zu machen, muss Vittore sich mit Volendo arrangieren. Doch der hat sich schon vor einigen Jahren aus dem sündigen Welttreiben verabschiedet, um ein Gott gefälliges Leben als Eremit in der Wildnis der umbrischen Bergwälder zu führen. Als Vittore ihn endlich aufspürt, trifft er auf »una specie di uccello umano in camiciotto azzurro: braccia lunghissime, sterno carenato come quello d'un pollo, due occhi tondi e arrossati, un naso sottile e adunco« – ein Fool on the Hill, mit dessen schrägen Ansichten sich der nüchterne Pragmatiker nun intensiv herumschlagen muss.
Mit zio Silvano, Volendo und Don Antonio Noica, einem Priester aus Amelia, der die verstreuten Einsiedler betreut, bereichert die Autorin ihr Personenkabinett um weitere originelle Exemplare, deren Kauzigkeit und Rätselhaftigkeit bestens unterhalten. Silvanos kriminelle Vergangenheit, die Umtriebe rumänischer Banden und diverse Verdachtsmomente, wie dieser und jener darin verwickelt sein könnte, machen Lust zum Mitraten und sorgen für (milde) Spannung.
Was mir größtes (und durchgehend anhaltendes!) Vergnügen beim Lesen bereitete, ist Caterina Emilis Art zu erzählen: der warmherzige Ton, der gefällige, aber keineswegs triviale Stil, die zahlreichen Erläuterungen zu Landschaft, Geschichte, Kultur, Sehenswürdigkeiten und leckeren Gerichten der Schauplätze in Apulien und Umbrien. Aus ihnen spricht nicht nur die Liebe der Autorin für diese Gegenden, sondern sie können den Leser tatsächlich zu gezielten Ausflügen reizen und begleiten.
So ist dieses Buch eine ideale, uneingeschränkt empfehlenswerte Urlaubslektüre sowohl für eine Reise an die Küsten im südlichen Apulien als auch in die uralte Kultur- und Naturlandschaft des südlichsten Umbrien.