Mein Geheimtipp ...
... wenn Sie auf angenehme und unterhaltsame Weise Ihre Italienisch-Grundkenntnisse aufmöbeln möchten: Lesen Sie La storia di un burattino (Die Abenteuer des Pinocchio) in der Reclam-Ausgabe!
- Wie bitte? Ein Kinderbuch? Sehe ich aus, als wäre ich fünf? Und überhaupt: Das kann doch jeder mitsprechen - Geppetto schnitzt Marionette, die wird frech, lügt sich 'ne lange Nase, begegnet Katz' und Fuchs und Fee und wird am Ende ein braver Junge - *gähn* ...
- Im Prinzip haben Sie ja Recht. Aber ...
Was Collodi da ausbreitet, ist weit mehr als das allseits bekannte TV-/Comic-Handlungsgerüst. Die Wege des hölzernen Abenteurers sind verschlungen. Immer wieder kehrt er zurück zu seinem Ausgangspunkt, wo es ihm gut gehen könnte, wo er nach seiner innersten Überzeugung auch bleiben und sich einordnen möchte - und immer wieder bringen ihn seine eigene Schwäche und von außen herangetragene Verlockungen von seinem Vorsatz ab; er zieht wieder davon, fällt erneut auf die Nase, bringt sich in größte Gefahren, enttäuscht alle, die es gut mit ihm meinen, aufs Bitterste.
Vordergründig scheint die Moral schlicht, die dem uneinsichtigen Burschen und dem Zuhörer/Leser immer wieder vor Augen gehalten wird, und ja, sie wirkt arg unzeitgemäß: Füge dich ein in die bestehende Ordnung, befolge deren Regeln, bleibe, wo du hingehörst, sei bescheiden und maßvoll, höre auf die, die dir an Erfahrung, Weisheit, Alter überlegen sind, und: Alles hat seinen Preis. Collodi hat das 1880 geschrieben, und ein Revoluzzer war er nicht.
Aber auch kein Duckmäuser, sondern ein bekannt kritischer, unkonventioneller Kopf. Das erkennt nicht erst der Leser des 21. Jahrhunderts. Hätten Sie geahnt, dass die Erzählung kritisch beäugt wurde, als sie in Fortsetzungen im Giornale per i bambini erschien? Die darin vertretene Moral sei nicht spezifisch christlich, wurde Collodi vorgeworfen. Sicher hatte er beim Schreiben nicht nur helle Kinder als Zielgruppe im Visier, sondern dachte auch an (vor-)lesende Erwachsene; für die zwinkert der freimütig kommentierende Erzähler beim Belehren mit den Augen, zeigt Nachsicht beim Urteilen und teilt Seitenhiebe auf die Autoritäten aus. Bürgerliche Tugenden hält er hoch, Philistertum gibt er der Lächerlichkeit preis. Das hat die Story schon immer sympathisch gemacht und ihr zu unvorstellbarem Erfolg verholfen.
Die Verhältnisse haben sich verändert, die zwischenmenschlichen Reibungen kaum. In der Schule wird Pinocchio gemobbt - als uncooler Streber! In wenigen Zeilen wird die Sache auf den Punkt gebracht, dass jedes Kind es nachvollziehen kann (S. 152):
- E se io studio, che cosa ve ne importa?
- A noi ce ne importa moltissimo, perché ci costringi a fare una brutta figura col maestro ...
- Perché?
- Perché gli scolari che studiano, fanno sempre scomparire quelli, come noi, che non hanno voglia di studiare. E noi non vogliamo scomparire! Anche noi abbiamo il nostro amor proprio!
- E allora che cosa devo fare per contentarvi?
- Devi prendere a noia, anche tu, la scuola, la lezione e il maestro [...]
- E se io volessi seguitare a studiare?
- Noi non ti guarderemo piú in faccia, e alla prima occasione ce la pagherai! ...
- In verità mi fate quasi ridere - disse il burattino con una scrollatina di capo.
Liest man La storia di un burattino als Erwachsener, erkennt man darin durchaus - im Prinzip - sich selbst wieder. Wenn das Kerlchen so schlicht und zeitlos, klar und stimmig, oft einsichtig, altklug, ja selbstironisch räsonniert, dann wieder schwach wird und in Larmoyanz zerfließt, verstehen wir seine Schwäche und seine Anfechtungen. Wir wissen ja selbst, wie schwer es ist, seinen Prinzipien treu zu bleiben, Versuchungen nicht nachzugeben, immer hübsch vernünftig zu handeln. Und wir werden nachdenklich und nachsichtig.
Warum die unprätentiöse Reclam-Ausgabe? Aus drei Gründen lege ich sie Ihnen ans Herz:
Erstens bietet sie (wie alle italienischen Reclam-Fremdsprachentexte) sorgfältig editierte Vokabelhilfen zu allem, was nicht zum Grundwortschatz gehört oder Probleme machen könnte. Wo erforderlich, verrät ein Pünktchen die korrekte Betonung des Wortes (seggiola), Hinweise auf verwandte Formen erleichtern das Verständnis und Einprägen. So macht es Spaß, Collodis wunderbare Sprache zu genießen und immer wieder Neues zu entdecken.
Zweitens gibt es einen Anhang von fast 30 Seiten, der auch für Nicht-Literaturwissenschaftler einfach interessant und leicht verständlich verfasst ist. Die Herausgeberin, Elisabeth Profos-Sulzer, stellt u.a. "Sieben Erklärungen für den Erfolg Pinocchios" zusammen und erläutert ihre einleuchtenden Thesen überzeugend. Höchst aufschlussreich!
Drittens enthält die Ausgabe die Illustrationen von Enrico Mazzanti, die schon die Erstausgabe von 1883 schmückten. Erstaunlich, wie groß, schlaksig und ernst er Pinocchio abbildet - weit überlegen dem süßlich-dümmlichen Disney-Naivling und seinen Verwandten, die leider den Blick des großen Publikums auf diesen Klassiker der Literatur seit Langem verfälschen.
Ich habe Pinocchio jetzt unter südlicher Urlaubssonne zum ersten Mal im Originaltext und mit Verstand gelesen und fand ihn unterhaltsam, überraschend vielschichtig und anregend. Überzeugen Sie sich selbst ...