Italiens Unternehmergeist reaktivieren
Die norditalienische Stadt Prato war noch bis in die 1990er Jahre die Hochburg der renommierten italienischen Textilindustrie. Hier wurden Seide und andere edle Materialien zu hochwertigen Produkten verarbeitet, die handwerklich und stilistisch weltweit Maßstäbe setzten. Mit der Globalisierung verfielen Preise, Kaufkraft und Qualitätsansprüche der Massenkundschaft. Manager aus Fernost kamen nach Prato und studierten die Fertigungstechniken. Anders als in anderen Gegenden und Branchen exportierten sie aber nicht die Arbeitsplätze in ihre Heimatländer, sondern importierten die Arbeitskräfte von dort und übernahmen die Produktion vor Ort. Heute ist Prato die Stadt mit der größten chinesischen Gemeinde in Italien: 50.000 Chinesen, schätzt man, darunter bis zu 30.000 Illegale, leben und arbeiten in der Stadt, die insgesamt um die 180.000 Einwohner hat.
Die Vorteile dieser ›Übernahme‹: Die Textilprodukte können nach wie vor unter dem Qualitätssiegel »Made in Italy« bzw. »Moda di Prato« verkauft werden, jedoch zu einem Bruchteil ihres früheren Preises. Die Nachteile: Von ursprünglich einmal über 8.000 Firmen musste die Hälfte schließen, und über ein Drittel der Arbeitsplätze gingen verloren. Die ehemaligen Textilarbeiter – einst ganze Familien – sind arbeitslos; zu den über 4.000 neu gegründeten Firmen in chinesischem Besitz haben sie keinen Zugang. Über die Arbeitsbedingungen in der chinesischen Parallelwelt kann man nur spekulieren ...
Den Premio Strega 2012 gewann ein autobiografischer Roman, der Pratos Abstieg thematisiert. Sein Autor Edoardo Nesi, geboren 1964, entstammt einer Familie von Pratenser Textilfabrikanten. Eigentlich war er entschlossen, Schriftsteller zu werden, doch dann wollte und konnte er sich der Verpflichtung seines Erbes nicht entziehen. Fünfzehn Jahre lang leitete er die Firma der Familie, bis er sie 2004 verkaufen musste. In der prämierten »Storia della mia gente« (2011) erzählt und berichtet er eindrucksvoll, wie er sich mit seinen Mitarbeitern gegen den Niedergang stemmt – und am Ende doch alle verlieren.
Sozusagen als Ergänzung zu jenem Buch – halb Roman, halb Dokumentation – hat Edoardo Nesi 2012 den Band »Le nostre vite senza ieri« folgen lassen, in dem er skizziert, was er über Italiens Zukunftspotenzial in Zeiten des Marktliberalismus, der europäischen Krise und des globalen Wettbewerbs denkt.
Nesi (der Erzähler) wollte kein Sachbuch schreiben. Vielmehr bedient er sich abwechslungsreicher Formen: Es sind neunzehn kurze Geschichten, Essays und Porträts, die erzählen, berichten, dialogisieren, erklären, diskutieren, polemisieren, zum Nachdenken anregen und unterhalten.
Die meisten Texte sind sehr persönlich geprägt; etliche plaudern aus Nesis Familienleben: wie er seine Tochter von ihrem Liceo classico abholt, wo sie Latein und Altgriechisch lernt; von einem allein verbrachten Weihnachtsabend; wie er Barack Obamas Rede vor dem britischen Unterhaus am Fernsehschirm erlebte; von seinem Lieblingsbuch »Quelli che si allontanano da Omelas« (»The Ones Who Walk Away from Omelas« von Ursula Le Guin); von Begegnungen mit Fremden (»Nesi, vinci per noi.«).
Thematisch richtet sich der Blick zunächst in die Vergangenheit auf das Unternehmertum der Siebziger Jahre – seine Ethik, seine Innovationskraft, seine handwerkliche Meisterschaft – und seinen späteren Verfall. Kurze Parabeln erzählen etwa von einem Textilunternehmer, der 1994 einen exorbitanten Gewinn einfahren konnte, der aber bereits ›modernen‹ Faktoren wie der Abwertung der Lira zu verdanken war. Die Freude über die Mitteilung seines pingeligen Steuerberaters weicht sogleich der Sorge: »Cazzo, e con le tasse come si fa?«
Wie geht es den Italienern heute? Nesi vergleicht die Rolle seiner Landsleute mit den Menschen in den Veduten von Giovanni Battista Piranesi: Sie sehen sich oft genug als bloße Staffagefiguren in den Überresten einer großen Vergangenheit. Was für eine Zukunft soll sich daraus entwickeln können?
Weil die Zeiten sich so rasant verändern, weil das gestrige Modell nicht mehr beibehalten werden kann, muss man, so fordert Nesi, einen Schnitt machen und ohne das Gestern auskommen.
Bei seinem Blick in die Zukunft vertritt Nesi (der Unternehmer) praxisnahe, aus Erfahrung, Beobachtung und Reflexion erwachsene Vorstellungen, stark engagiert, aber frei von ideologischem Eifer. Er stellt seinen Traum von einem wiedererstarkten italienischen Unternehmertum vor, wie er das Land in den Sechziger Jahren beflügelt und erfolgreich gemacht hat (da überholte Italien die Wirtschaft Frankreichs), achtet aber sorgfältig darauf, den Traum zu erden, seine Machbarkeit zu belegen.
Im Zentrum seiner Analysen stehen die vielen Jugendlichen, die ohne Arbeit, ohne Ausbildung, ohne Zukunftsperspektiven leben und sich im Wesentlichen selbst überlassen bleiben. Nesi berichtet, wie er vor einer Gruppe solcher junger Leute über seine Tätigkeiten sprach und neben viel Interesse auch auf Lethargie und Trotz stieß. Ihm wurde wieder einmal klar, welches Potenzial an Ideen, Kreativität, Kraft und Entschlossenheit in diesen Zehntausenden von Menschen brachliegt, ignoriert wird, womöglich auf falsche Bahnen abdriftet.
Denjenigen, die eine Geschäftsidee umtreibt, möchte Nesi mehr öffentliche Unterstützung verschaffen. Er ist nicht blauäugig – natürlich weiß auch er, dass Firmen scheitern. Aber woran es in Italien und der jungen Generation im besonderen mangelt, sind nicht warnende, zögernde Stimmen, sondern Mutmacher. Sein diesbezügliches kühnes Modell klingt plausibel; ob es realisierbar ist?
Doch Edoardo Nesi ist ein Kämpfer und seit 2009 auch politisch aktiv: erst als Assessore alla Cultura ed allo Sviluppo Economico der Provinz Prato, dann in der neuen Partei Scelta Civica (SC) um Mario Monti, für die er nach den Wahlen 2013 als Abgeordneter in die Camera dei deputati einzog.
Dort wird sich Nesi (der Politiker) ganz sicher für »uno stato europeo che vara un nuovo Piano Marshall delle idee« konkret einsetzen.
Nesi (der Mutmacher) beschließt sein Buch mit einem wunderschönen, optimistischen Epilog. Er erzählt ebenso spannend wie anrührend von einem Champions-League-Spiel (AC Milan gegen Real Madrid), das der Autor mit seinem fünfzehnjährigen Sohn Ettore besuchen will. Aber alles scheint schief zu gehen; alle möglichen Hindernisse stellen sich ihnen entgegen, bis sie auf den letzten Drücker das gewaltige Stadion in San Siro betreten dürfen – ein tobender Hexenkessel! Das Spiel zerrt an den Nerven, die tifosi singen »Noi non vi lasceremo mai « – doch in letzter Sekunde verliert Milan seinen Vorsprung, und das Spiel endet nur unentschieden. Enttäuschung und Trauer sind fast physisch fassbar. Ettore aber ist hellauf begeistert und dankbar: »Quanto ci siamo divertiti! Abbiamo visto Pippo segnare due gol, babbo! […]« – und da wird auch dem Vater klar, dass das gemeinsame Erlebnis eine viel nachhaltigere Wirkung haben wird als die Frage, ob Milan gewonnen hat – und so lachen und scherzen die beiden »felici come lepri giovani in mezzo alla massa di gente rattristata che non s’è ancora accorta d’aver ricevuto il regalo più grande e raro, quello di poter vivere una passione ardente. Proprio come l’Italia, stiamo per partire per un lungo viaggio, nella notte. Ma saremo insieme, mio figlio e io, e andrà tutto bene. Sarà un bellissimo viaggio. […] Andrà tutto benissimo. Lo giuro.«